2-20 James Hutton: Mythos Siccar Point
„Speed Time” anstelle „Deep Time” – Erosion und Sedimentation hochenergetisch anstatt langsam und graduell
Nicht das berühmteste, aber das wichtigste geologische Naturmonument der Welt
Siccar Point, „arguably the most important geological site in the world.“ So die Hinweistafel an der Kissing Gate, unmittelbar oberhalb der sonst so unbedeutenden Landspitze an der schottischen Ostküste (Abb. 1). Seit Generationen pilgern Studenten zu einem natürlichen Aufschluss, der, der Tafelbeschreibung folgend, James HUTTON (1726-1797) im Jahre 1788 die abschließende Bestätigung für seine Behauptung gab, dass die Erde Äonen alt sei.[1] Damit steht Siccar Point wie kein anderes Naturmonument für das unvorstellbare Ausmaß von Zeit, das geologische Prozesse ausmachen soll. – Ein genauerer Blick auf Siccar Point zeigt allerdings, dass die anstehenden Ablagerungen eine derartige Interpretation nicht zulassen. Vielmehr bezeugen die Sedimentgesteine eine sehr rasche Erosion und Sedimentation.
Die „Hutton-Diskordanz“
Am Siccar Point werden steil stehende, ältere Sedimentgesteine von leicht schräggeneigten, jüngeren Sedimentgesteinen überlagert. Die Lagerung der Gesteinsverbände zueinander ist somit diskordant, d. h. sie steht in einem „Missklang“. Dabei ist ein deutlicher Winkel ausgebildet (Abb. 2 und 3). So hat sich für solche Phänomene der deskriptive Begriff Winkeldiskordanz (angular unconformity) durchgesetzt.

Abb. 1 Siccar Point. Etwa 55 km östlich Edinburgh, Schottland; Koordinaten: 55° 55′ 53″ N, 2° 18′ 5″ W. Foto: Landsat-8-Aufnahme vom 4. Juni 2018 (Credit: NASA/Joshua Stevens).
In HUTTONs Hauptwerk Theory of the Earth findet Siccar Point nur eine einzige Erwähnung. Nicht in der „Erstausgabe“ von 1788, wo HUTTON hauptsächlich sein Theorie-Regelwerk vorstellt, sondern in der Erweiterungs- bzw. Ergänzungsausgabe von 1795 (Vol. 1), in welchem er weitere „Beweise“ für seine Theorie präsentiert. Vom Boot aus hatten HUTTON und seine Begleiter die gesuchten diskordanten Lagerungsverhältnisse besonders gut ausgeprägt am Siccar Point (aus der Ferne) beobachtet [2]. Heute ist Siccar Point
stone turn up near the Pease burn, lifting towards the schistus. We found the junction of that schistus with the red sand-stone and marly strata on the shore and sea bank, at St. Helens, corresponding in general with what we had observed in the burns to the westward. But, at Siccar Point, we found a beautiful picture of this junction washed bare by the sea. The sand-stone strata are partly washed away, and partly remaining upon the ends of the vertical schistus; and, in many places, points of the schistus strata are seen standing up through among the sand-stone, the greatest part of which is worn away. Behind this again we have a natural section of those sand-stone strata, containing fragments of the schistus” HUTTON (1795, Chap. VI., Sect I). – Schistus = auch unter der Bezeichnung „Hutton-Diskordanz“ bekannt.

Abb. 2 Aufschluss Siccar Point, schottische Ostküste.
Beobachtung und Interpretation
HUTTON betrachtete die Schichten am Siccar Point im Lichte seiner eigenen Naturbeobachtungen einer extrem langsamen Abtragung im schottischen Hügelland. 3,4 Am Siccar Point lieferten die älteren (herausgehobenen und steilgestellten) Sedimentgesteine, ehemals Meeresablagerungen, das Material für die jüngeren Sedimentgesteine.[3] Doch, so folgerte HUTTON, auch die älteren Sedimentgesteine benötigten einen Sedimentlieferanten; also bedurfte es noch älterer Gesteine eines ehemaligen Festlandes, die abgetragen wurden. Und auch diese Festlandsgesteine wiederum waren ehemals Meeresablagerungen und so fort.[4] Es verhält sich wie eine endlose Kette oder anders ausgedrückt wie ein fortwährender Zyklus, ein immerwährender Gesteinskreislauf. So endet schließlich HUTTONs Werk mit dem bekannten Wort: „(…) wir finden keine Spur eines Anfangs, keine Aussicht auf eine Ende.“7
ältere Gesteinskomplex (Grauwacken), red sand-stone = jüngere Gesteinskomplex (Brekzien und Sandsteine).
- „The immense time necessarily required for this total destruction of the land (…) ” HUTTON (1788, 215).
- „With regard again to the effect of time. Though the continuance of time may do much in those operations which are extremely slow, where no changes, to our observation, had appeared to take place; yet, where it is not in the nature of things to produce the change in question, the unlimited course of time would be no more effectual, than the moment by which we measure events in our observations” HUTTON (1788, 226).
A) Der ältere Gesteinskomplex – silurische Grauwacken
Die steilstehenden Sedimentgesteine sind Grauwacken, die mit Tonschiefern alternieren (Abb. 3). Die Grauwacken sind graue Sandsteine, die sich aus Komponenten von gröberem Sand bis zu feinerem Ton aufbauen, also im Ganzen schlecht bis gar nicht sortiert sind. Bezeichnend ist ihr hoher Anteil kantiger Gesteinsbruchstücke. Innerhalb der Grauwackenbänke ist eine Gradierung (von grob nach fein) ausgeprägt; teilweise ist auch Schrägschichtung erkennbar. Aufgrund dieser Charakteristika werden die GrauwackenSequenzen als Ablagerungen von Trübeströmen (turbidity currents) interpretiert. Solcherart sedimenthaltige Ströme an untermeerischen Hängen sind schnellfließend und repräsentieren kurzzeitige Ereignisse. Eine Grauwacken-Sequenz entstand so möglicherweise innerhalb von Minuten. Die lateral (seitlich) aushaltenden Bänke, die Abfolge von Dutzenden solcher Sequenzen ohne erkennbare Sedimentationsunterbrechung und das große Verbreitungsgebiet lassen insgesamt auf eine großräumige und rasche Sedimentation und damit auch Erosion schließen.
B) Die Diskordanz
Die Diskordanz ist die Kontaktfläche zwischen den beiden Gesteinskomplexen; sie ist nahezu eben (Abb. 3). Im Vergleich zur gegenwärtigen Exposition, wo die Grauwacken nicht überdeckt sind, kann ein bankweise stark zergliedertes Relief (Verwitterung) beobachtet werden (Abb. 4). Dies lässt darauf schließen, dass zwischen Erosion des Grauwackenkomplexes und Ablagerung des oberen Gesteinskomplexes keine große Zeitspanne liegen kann. Aus der auffällig ebenen Erosionsfläche kann ein flächenhafter, rascher Abtrag („Abrasion“) gefolgert werden, ansonsten hätte sich ein klein- wie großräumiges Relief ausgebildet.

Abb. 3 Winkeldiskordanz am Siccar Point. Steilstehende Grauwacken werden von nahezu horizontalen Brekzien und Sandsteinen überlagert. Linienlegende: durchgezogen = Winkeldiskordanz, gestrichelt = Fortsetzung der Winkeldiskordanz unter Brekzien-bedeckung, gepunktet = Nachzeichnung der Lagerung der Gesteinskomplexe.
Der steilgestellte und herausgehobene Grauwackenkomplex weist keinerlei Bruchstrukturen auf. Dies legt die Annahme nahe, dass die Sedimente in noch „weichem“ und wasserreichen, also plastischen Zustand verformt wurden. Jede Diskordanz zeigt eine Sedimentationsunterbrechung an. Diese allerdings kann nicht von sehr langer Dauer gewesen sein. Denn die Verkettung der Prozesse von der Sedimentation über anschließender Heraushebung und Steilstellung bis zur unmittelbaren Erosion deutet auf eine Folge rascher Großereignisse (tektonisch hochaktives Milieu, hochmobiler Sedimentationstrog).
C) Der jüngere Gesteinskomplex – devonische Old-Red-Sandsteine
Der überlagernde rötliche Gesteinskomplex besteht aus einer basalen Brekzie und sich anschließenden Sandsteinen mit Kreuzschichtung sowie eingelagerter Brekzienhorizonte (Abb. 3). Die Brekzie besteht aus einer sandigen Grundmasse und Grauwackentrümmern. Diese Komponenten sind kantig, teilweise abgeflacht und dachziegelartig gelagert. Sie werden als rasche Ablagerung schnell fließender Oberflächenströme (Hochenergie-Milieu) interpretiert. Die großflächige Verbreitung und Mächtigkeit dieser Ablagerungen zeugen von einer gewaltigen katastrophischen Erosion.
D) Zwischenfazit
Siccar Point, aus der Nähe betrachtet, im Lichte moderner Sedimentologie und dynamischer Prozessabläufe, bezeugt katastrophische Ereignisse rascher Erosion und Sedimentation in einer Dimension, wie wir sie heute nicht beobachten. HUTTON hat sich von einer Idee, nicht aber von den Befunden leiten lassen.
Zusammenfassung und Ausblick
HUTTONs „Unermesslichkeit der vergangenen Zeit“, seine Idee eines immerwährenden, nahezu unendlichen Stoffkreislaufes verknüpft mit seiner damaligen Beobachtung eines (aktuell) extrem langsamen Erosionsprozesses, kann dem Befund am Siccar Point nicht entnommen werden.
Im Gegenteil. Beide Gesteinskomplexe zeugen von einer raschen Erosion als auch Sedimentation. Selbst die Sedimentationsunterbrechung (Diskordanz) kann nicht von sehr langer Dauer gewesen sein.

Abb. 4 Ebene Erosionsfläche (Diskordanz) und exponierte, verwitterte Grauwacken (gepunktet).
HUTTONS Ideen sind von LYELL (1830-33), insbesondere in Form des Uniformitarianismus (häufig „verkürzt“ als: Die Gegenwart ist der Schlüssel zur Vergangenheit, -> 2-21), DARWIN (1859, -> 2-22), HOLMES (1961) und vielen anderen wohlwollend aufgegriffen und zementiert worden. Die „Unermesslichkeit der vergangenen Zeit“ hat durch die von MCPHEE (1983, 127) kreierte Wortprägung „Deep Time“ (Tiefenzeit) in neuem Kleide erneut Einzug in die Geologie genommen. Stephen J. GOULD hat HUTTON und die Geologie scharf analysiert. „Zu dieser Vaterschaft[5] ist Hutton gekommen, weil eine englische Tradition in ihm den ursprünglichen Entdecker der Tiefenzeit sehen wollte – und die Geologen wissen alle ganz genau, dass es in unserer Disziplin nichts gibt, was eine ähnliche Bedeutung hätte“ (GOULD 1992, 98f). Die Tiefenzeit ist für die Mehrheit der Geologen das höchste Gut. Aber aufgrund des ganz anderen Befundes – nämlich „Speed Time“ anstelle „Deep Time“ – muss mit dem Mythos Siccar Point auch der Mythos Tiefenzeit fallen.
Folgen wir weiter der Hinweistafel am Kissing Gate, so scheint HUTTON ein weiterer „Verdienst“ noch viel höher angerechnet zu werden: „Hutton’s theory released science and philosophy from limitations of the biblical age of the earth (6000 years old). Though bitterly disputed at that time, it is now accepted as a fundamental of science.”So doch HUTTONs Theorie auf Sand gegründet war, was wird mit dem ganzen Bau passieren? „Als nun ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es ein und wurde völlig zerstört.“[6]
Literatur
DARWIN C (1859) The Origin of Species. 6th edition 1872, reprint 1993, Random House, New York.
GOULD SJ (1990) Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. München Wien.
HOLMES A (1961) Principles of Physical Geology.
London.
HUTTON J (1788) Theory of the Earth; or an Investigation of the Laws Observable in the Composition, Dissolution, and Restoration of Land upon the Globe. Transactions of the Royal Society of Edinburgh 1(2), 209-304.
http://www.uwmc.uwc.edu/geography/hutton/hutton.htm; Zugriff 12.03.2012.
HUTTON J (1795) Theory of the Earth, with Proofs and Illustrations. In four parts. Edinburgh. Vol. 1 (of 4).
http://www.gutenberg.org/files/12861/12861h/12861-h.htm; Zugriff 12.03.2012.
LYELL C (1830-33) Principles of Geology. Being an Attempt to Explain the Former Changes of the Earth’s Surface by Reference to Cause Now in Operation. London.
MCPHEE J (1983) Annals of the Former World. Book 1: Basin and Range. New York.
NASA (2018) https://earthobservatory.nasa.gov/images/92598/the–abyss–of–time.
-> = Verweis auf andere Beiträge: ->2-01, 2-02, 2-03.
Bildnachweis
Foto (Abb. 2-4): Dave SOUZA (Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0); http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Siccar_Point_red_capstone_closeup.jpg; Eintragungen durch den Verfasser.
[1] Die NASA machte mit ihrem „Bild des Tages“ vom 14. August 2018 auf James HUTTON und seine Ideen aufmerksam. Der NASA-Beitrag zum Bild, überschrieben mit „Der Abgrund der Zeit“, erklärt die zentrale Doktrin der Geologie, ein Konzept, das Uniformitarismus genannt wird: Die Idee, dass zahlreiche geologische Prozesse, die wir heute beobachten, in der gleichen Weise und mit der gleichen Intensität auch in der Vergangenheit wirkten. Mit James HUTTON sei diese Doktrin der Geologie begründet worden; er habe „unser Verständnis über das Alter der Erde verändert“ und habe geholfen, „die Wissenschaft der Geologie zu etablieren.“
[2] „Having taken boat at Dunglass burn, we set out to explore the coast; and, we observed the horizontal sand-
[3] „(…) but here we further learn, that the indurated and erected strata, after being broken and washed by the moving waters, had again been sunk below the sea, and had served as a bottom or basis on which to form a new structure of strata” HUTTON (1795, Chap. VI., Sect I).
[4] „By thus admitting a primary and secondary in the formation of our land, the present theory will be confirmed in all its parts. For, nothing but those vicissitudes, in which the old is worn and destroyed, and new land formed to supply its place, can explain that order which is to be perceived in all the works of nature“ HUTTON (1795, Chap. VI., Sect II, letzter Absatz). 7 HUTTON (1788, 304).
[5] Vater der Geologie; Anmerkung des Verfassers: Das vermeintliche Mutterland der Geologie hat seinen vermeintlichen Vater (HUTTON) gekürt.
[6] Die Bibel: Matthäus-Evangelium, Kap. 7, Vers 27.