2-21 Lyell – aus Prinzip?

2-21 Lyell – aus Prinzip?

Mit den Lyell‘schen Prinzipien kann die Vorzeit nicht entschlüsselt werden

The present is the key to the past?

Die Gegenwart ist der Schlüssel zur Vergangenheit. – Kein Satz von Charles LYELL.

Die bekannte Redewendung wurde von GEIKIE (1905), lange nach LYELL (1797-1875), geschaffen. Sie erfasst, obschon einfach und prägnant, nicht ganz den Kern von LYELLs Prinzipienwerk. In Kürze und notwendigerweise ebenfalls vereinfacht: LYELL ließ für die Deutung der Vergangenheit als einzige Erfahrungsquelle nur zu beobachtende gegenwärtige geologische Vorgänge zu. Und: Nur durch strikte Befolgung dieser Methodologie sei die geologische Wahrheit zu ermitteln (GOULD 1990, 155). Die Methodologie selbst ist ein kompliziertes, geschickt verwobenes Konstrukt verschiedener Ausprägungen von Uniformität (Gleichförmigkeit).[1] Der die Methodologie LYELLs zusammenfassende Begriff Uniformitarianismus[2] stammte nicht von LYELL, er selber hatte keinen Namen dafür, sondern wurde 1832 von einem seiner Rezensenten, William WHEWELL, eingeführt.[3]

Programm und Bedeutung für die Geologie

LYELLs Programm liest sich bereits im Untertitel seines erstmals 1830-33 erschienenen Hauptwerkes Principles of Geology: Ein Versuch, die früheren Veränderungen der Oberfläche der Erde unter Bezug auf Ursachen, die gegenwärtig im Gange sind, zu erklären. Oder sprachlich moderner: (…) durch heute wirkende Ursachen zu erklären.

LYELL hat für die Geologie ein so fundamentales wie auch umstrittenes Werk hinterlassen, dass sich inzwischen Generation von Philosophen, Geowissenschaftlern und Theologen damit auseinandergesetzt haben (beispielweise WHEWELL 1872; HOOYKAAS 1963, 1970; HUBERT 1967; SIMPSON 1970; HENNINGSEN 2009). Nach ENGELHARDT & ZIMMERMANN (1982) wird „das regulative Prinzip der Uniformität insbesondere in der Form des Aktualismus (…) auch heute noch als die wichtigste Grundlage der geowissenschaftlichen Forschung angesehen.“[4] Das scheint gegenwärtig, fast 40 Jahre später, noch immer im Wesentlichen zu gelten.[5]

AGER (1993) bezeichnet LYELL als Hohepriester des Uniformitarismus (S. 82). An einer Vielzahl von Beispielen zeigt AGER auf, dass der „substantivische Uniformitarismus“ (gleichförmige Raten oder Bedingungen) zahlreiche unterschiedliche geologische Erscheinungen nicht erklären kann. Im Gegenteil: Der stratigraphische Bericht sei voll von Beispielen von Prozessen, welche weit davon entfernt seien als „normal“ bezeichnet werden zu können. Denn die Sedimentation in der Vergangenheit sei sehr oft rasch und sehr unregelmäßig gewesen (S. 70). Bis zu dieser Erkenntnis, so räumt AGER ein, wirkte das LYELLsche System wie eine Gehirnwäsche: „(…) ich habe versucht zu zeigen, wie ich denke, dass die Geologie in die Hände von Theoretikern fiel, die mehr von der sozialen und politischen Geschichte ihrer Zeit bestimmt waren als von Beobachtungen im Feld. So war es – wie es Steve Gould formulierte –, dass Charles Lyell es bewerkstelligte, zukünftige Generationen von Geologen davon zu überzeugen, dass ihre Wissenschaft mit ihm[6] begonnen hatte‘.

Mit anderen Worten, wir haben uns erlaubt, uns einer Gehirnwäsche zu unterziehen, einer Vermeidung jeglicher Interpretation der Vergangenheit, die extreme Prozesse involviert und die als ‚katstrophisch‘ bezeichnet werden können“ (AGER 1993, 70).

Beispiele der Auseinandersetzung mit dem Uniformitarismus

I) Lake-Missoula-Flut

Mehr als 40 Jahre, von 1923 bis 1965, dauerte es, bis der Geologe J. H. BRETZ seine Fachkollegen davon überzeugen konnte, dass das Scanneled Scabland im Osten des Bundesstaates Washington durch ein gewaltiges spätglaziales Flutereignis gebildet wurde (ALLEN et al. 1986, BRETZ 1969).[7]

In seiner Empfangsrede zum Erhalt der Penrose-Ehrenmedaille im Alter von 96 Jahren sagte BRETZ: „Es kann mir zugeschrieben werden, den legendären Katastrophismus wiederbelebt und entmystifiziert zu haben und einen zu rigorosen

Uniformitarismus in Frage gestellt zu haben.“

II) Gigantische Salzvorkommen im Untergrund des Mittelmeeres

Auswertungen von Kernbohrungen in Sedimenten des Mittelmeeres decken umfangreiche Evaporit-Vorkommen[8] auf. HSÜ et al. (1973) schlagen eine Entstehung der Evaporit-Vorkommen durch Abschnürung des Paläo-Mittelmeeres vom Atlantik vor, die eine Austrocknung in einer Beckentiefe von 1500-2500 m bewirkte sowie eine anschließende Auffüllung des Beckens mit Meerwasser über eine „Gibraltarkaskade“ innerhalb von bis zu 1000 Jahren.[9] In ihrer Überzeugung dieser non-uniformitarischen Vorgänge ringen sie mit dem „substanziellen Uniformitarismus“ und flüchten in „das Konzept des seltenen (und unwahrscheinlichen) Ereignisses“ (GRETENER 1967).

HSÜ et al. (1973) schreiben: „(…) und wir können kaum erwarten [statistisch betrachtet], eine moderne [heutige] Salzpfanne zu finden, die so groß ist wie das Mittelmeer, um die Forderung der substanziellen Uniformitarianer zu erfüllen.“ Und weiter: „Bohraktivitäten haben das Unwahrscheinliche aufgedeckt – dass ein Gebiet so groß wie das Mittelmeer von Salzablagerungen unterlegt ist. Das Messinische Ereignis ist ein unwahrscheinliches Ereignis, ungeachtet dessen, ob das Becken tief oder flach war, Tiefwasser oder ausgetrocknet. Welche Erklärung wir auch immer anbieten, sie würde als unwahrscheinlich scheinen. Andererseits ist unwahrscheinlich nicht unmöglich. Es scheint angemessen, dass wir unsere Geschichte mit einem Zitat eines Meisterdetektives schließen: Arthur Conan Doyle, alias Sherlock Holmes: ‚Es ist eine alte Maxime meinerseits, dass, wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, was bleibt, wie unwahrscheinlich auch immer, muss die Wahrheit sein.‘“

III) Einbruch des Atlantiks in das Mittelmeer

Ein durch Bohrungen und Seismik rekonstruierter 200 km langer Kanal mit 250 m tiefen Einschnitten am Boden der Gibraltarstraße und weiter westlich ins Mittelmeer hinein veranlassen GARCIA-CASTELLANOS et al. (2009), für den Eintritt atlantischer Wasser in das [vermeintlich, MK[10]] leere (ausgetrocknete) Mittelmeer am Ende der „messinischen Salinitätskrise“ einen katastrophischen Einbruch anzunehmen. Anstelle einer begrenzt wirkenden „Gibraltarkaskade“ (HSÜ et al. 1973, vgl. oben) weist die Seebodenmorphologie auf ein extremes Erosionsereignis und die Ausbildung einer Art Rampe in das Mittelmeer hinein. Errechnete maximale Fluss- bzw. Abflussraten sind um eine Größenordnung höher als bei der Lake-Missoula-Flut (hier: 108 m3s1); die Maximalgeschwindigkeiten werden mit etwa 140 km/h angegeben, die Einschnittrate mit 0,4 m pro Tag. – Eine Auseinandersetzung mit dem Uniformitarismus erfolgt nicht (mehr).

GARCIA-CASTELLANOS et al. (2009) schreiben: „(…) unsere Resultate lassen darauf schließen, dass 90 % des Wassers in einer kurzen Periode zwischen einigen Monaten und zwei Jahren transferiert wurde. Diese extreme, schlagartige Flut mag Spitzenwerte des Seespiegelanstieges des Mittelmeeres um mehr als 10 Meter pro Tag bedingt haben.“

IV) Sedimentäre Ablagerungsräume

REINECK & SINGH (1980, 503) schreiben in ihren Schlussbemerkungen ihres Lehrbuches Depositional Sedimentary Environments [Sedimentäre Ablagerungsräume]:

„(1) Verfügen wir über moderne Analogien oder Sedimentationsmodelle, die auf alle ehemaligen Umgebungen [Ablagerungsräume, MK] anwendbar sind? (2) Ist es immer möglich, eine ehemalige Umgebung im Lichte rezenter Analogien zu erkennen? Obgleich diese Fragen logisch sind, sie sind schwierig zu beantworten; und wenn wir gefragt würden, sie kategorisch zu beantworten, würden wir auf Basis unseres derzeitigen Wissensstandes ein ‚Nein‘ wählen.“ Und weiter unten: „Nichtdestotrotz ist das Prinzip des Uniformitarismus (Prinzip des Aktualismus) natürlich in groben Zügen gültig. Durch den Vergleich ehemaliger und rezenter Sedimente ist seit langem etabliert, dass die physikalischen und chemischen Gesetze, die die Sedimentation steuern, während der gesamten geologischen Geschichte konstant geblieben sind. Unter gegebenen hydrodynamischen Konditionen haben sich die gleichen primären Strukturen in ehemaligen und rezenten Sedimenten gebildet.“ Als Vorbemerkung hätten diese Aussagen sicherlich noch mehr Leser erreicht.

V) Impakt-Ereignis an der Kreide/Tertiär-Grenze

ALVAREZ (2009, 146) schreibt zum Impakt-Ereignis an der Kreide/Tertiär-Grenze[11] (Entdeckung der Iridium-Anomalie 1979, vgl. ALVAREZ et al. 1979, 1980):

„Der K/T-Impakt, zuerst erkannt bei Gubbio [Italien, MK], war ein wirklich katastrophisches Ereignis, dessen Geschichte im Detail in den Gesteinsbericht geschrieben ist. Er korreliert mit dem großen Massenaussterben vor 65 Millionen [radiometrischen, MK] Jahren und verursachte es möglicherweise. Nach eineinhalb Jahrhunderten war LYELLs kompromissloser uniformitarischer Gradualismus tot.“

Zusammenfassung und Handlungsbedarf

Die selektiv-qualitative Zusammenstellung soll ergänzend zu den oben verwiesenen Schriften betont zeigen, dass ein regulatives Prinzip der LYELL‘schen Art eine Suche und Annäherung an die Wahrheit behindert und darüber hinaus über 150 Jahre in eine falsche Richtung gelenkt hat. Es ist das Verdienst einzelner Wissenschaftler, dass sie aus diesem System, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung und Vorsicht, ausgebrochen sind, beharrlich ihren Weg verfolgten und damit zu Wegbereitern einer (möglichen) Kurskorrektur wurden. Die Akzeptanz katastrophischer Vorgänge (Hochenergie-Milieus) in der Erdvergangenheit, aber ausschließlich limitiert auf seltene Vorkommnisse (Stichworte: „moderner Katastrophismus“; „Konzept des seltenen Ereignisses“, vgl. GRETENER 1967) oder eine moderate Ereignisstratigraphie zeigen die nach wie vor starke Imprägnation mit LYELL‘schen Gedankengut.

Fazit

Mit den LYELL‘schen Prinzipien kann die Erdvergangenheit nicht entschlüsselt werden. Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob heute zu beobachtende Phänomene, Gesetzmäßigkeiten und Prozesse auf die Vergangenheit übertragen werden können. In diesem Sinne ist die aktuogeologische Forschung ein essentieller Baustein der historischen Geologie.

Literatur

AGER DV (1993) The nature of the stratigraphical record. Chichester.

ALLEN JE & BURNS M, mit SARGENT SC (1986) Cataclysms on the Columbia. Portland, Oregon.

ALVAREZ W, ALVAREZ LW, ASARO F & MICHEL HV (1979) Anomalous iridium levels at the Cretaceous/Tertiary boundary at Gubbio, Italy: Negative results of tests for a supernova origin. In: CHRISTENSEN WK & BIRKELUND T (Eds) Cretaceous-Tertiary Boundary Events Symposium; II. Proceedings, 50-53. University of Copenhagen.

ALVAREZ LW, ALVAREZ W, ASARO, F & MICHEL HV (1980) Extraterrestrial cause for the CretaceousTertiary extinction. Science 208, 1095-1108.

ALVAREZ W (2009) The historical record in the Scaglia limestone at Gubbio: magnetic reversals and the Cretaceous-Tertiary mass extinction. Sedimentology 56, 137-148.

BRETZ JH (1969) The Lake Missoula Floods and the Channeled Scabland. Journal of Geology 77, 503543.

VON ENGELHARDT W & ZIMMERMANN J (1982) Theorie der Geowissenschaft. Paderborn München Wien Zürich.

GARCIA-CASTELLANOS D, ESTRADA F, JIMÉNEZMUNT I, GORINI C, FERNÀNDEZ M, VERGÉS J & DE VICENTE R (2009) Catastrophic flood of the Mediterranean after the Messinian salinity crisis. Nature 462, 778-782.

GOULD SJ (1990) Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. München Wien.

GEIKIE A (1905) The founders of geology. London.

GRETENER PE (1967) Significance of the rare event in geology. Bull. Am. Assoc. Petrol. Geologists 51, 2197-2206.

HENNINGSEN D (2009) Aktualismus in den Geowissenschaften – Die Gegenwart als Schlüssel zur Vergangenheit. Naturwissenschaftliche Rundschau, 62, 229-232.

HOOYKAAS R (1963) The Principle of Uniformity in Geology, Biology, and Theology. Leiden.

HOOYKAAS R (1970) Catastrophism in Geology, Its Scientific Character in Relation to Actualism and Uniformitarianism. Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, afd. Letterkunde, Med. (n.r.) 33, 271-316.

HSÜ KJ, CITA MB & RYAN WBF (1973) The origin of the Mediterranean evaporites. Init. Rep. Deep Sea Drilling Project 13, 1203-1235, US Government Printing Office.

HUBERT MK (1967) Critique of the Principle of Uniformity. In: ALBRITTON CC (ed.) Uniformity and Simplicity. Geol. Soc. Amer. Spec. Paper 89, 3-33.

KÖTTER R (2001) Zur methodologischen Struktur des Aktualismusprinzips. Z. d. dt. geol. Gesellschaft 152, 129-141.

KOTULLA M (2014) Megafluten. Studium Integrale Journal 21, 4-11. http://www.si-journal.de/jg21/heft1/sij211-1.pdf

KOTULLA M (2017) Salzlagerstätten: War das Mittelmeer einst ausgetrocknet? Studium Integrale Journal 24, 22-30. http://www.si-journal.de/jg24/heft1/sij241-3.pdf

KOTULLA M (2018) Geologisches Weltbild: Aktualismus von Wiederbelebung der Katastrophentheorie gefährdet? Studium Integrale Journal 25, 117-118. http://www.sijournal.de/jg25/heft2/sij252k.pdf

LYELL C (1830-33) Principles of Geology. Being an Attempt to Explain the Former Changes of the Earth’s Surface by Reference to Cause Now in Operation. London.

LYELL C (1867-1868) Principles of Geology. 2 vols., 10th ed., London.

REINECK H-E & SINGH IB (1980) Depositional Sedimentary Environments. Berlin Heidelberg New York.

SIMPSON GG (1970) Uniformitarianism. An Inquiry into Principle, Theory, and Method in Geohistory and Biohistory. In: HECHT MK & STEERE WC (eds.) Essays in Evolution and Genetics in Honor of Theodosius Dobzhansky. New York, 43-96.

WHEWELL W (1872) The Two Antagonist Doctrines of Geology. History of Inductive Sciences from the Earliest to the Present Time, Vol. 2. New York, 586-598.

-> = Verweis auf andere Beiträge: ->2-01, 2-02, 2-20.


[1] GOULD (1990) identifiziert und unterscheidet Uniformität des Gesetztes, Uniformität des Prozesses, Uniformität des Tempos oder Gradualismus, Uniformität des Zustandes oder Neoprogressionismus und Uniformität der Geschwindigkeit.

[2] Im Deutschen häufiger als Uniformitarismus, seltener als Uniformismus, bezeichnet.

[3] Nach GOULD (1990, 155).

[4] Es gibt einige Versuche, das Aktualitätsprinzip durch Neufassungen oder Neuinterpretationen aufrecht zu erhalten; vgl. z. B. KÖTTER (2001).

[5] Vgl. KOTULLA (2018).

[6] So beginnt beispielsweise LYELLs Werk mit: „Geologie ist die Wissenschaft (…)“

[7] Siehe auch KOTULLA (2014): Megafluten.

[8] Evaporite: Salzgesteine; hier Chloridgesteine, hauptsächlich aus den Mineralen Halit (NaCl) und Sylvin (KCl) aufgebaut, und Sulfatgesteine, hauptsächlich aus dem Mineral Calciumsulfat (CaSO4) aufgebaut.

[9] Zu einer Diskussion dieser Vorstellung siehe KOTULLA (2017).

[10] Siehe Fußnote 9.

[11] Nach aktueller chronostratigraphischer Klassifikation: Kreide/Paläogen-Grenze.