Kambrische Explosion

Kambrische Explosion

Die Fossilüberlieferung vielzelliger Tiere beginnt mit einer fast schlagartig auftauchenden breiten Vielfalt verschiedenster Baupläne im Unterkambrium. Dieses Phänomen wird heute meist als „kambrische Explosion“ bezeichnet. Die vergleichsweise wenigen Fossilien im obersten Präkambrium eignen sich kaum als Vorläufer der kambrischen Tierstämme.

1.0 Inhalt

In diesem Artikel wird erklärt, was unter der „kambrischen Explosion“ verstanden wird und es werden Mutmaßungen über ihre Ursachen erläutert und bewertet.

1.1 Plötzliches fossiles Auftreten verschiedenster Tierstämme

Abb. 31: Vereinfachte geologische Säule. Am Rande befinden sich Altersangaben in Millionen Jahren gemäß radiometrischer Datierungen.

Eine der ausgeprägtesten Diskontinuitäten in der Fossilüberlieferung findet sich am Übergang vom Präkambrium zum Kambrium (Zum Überblick siehe Abb. 31). In kambrischen Sedimenten [= geschichtete Gesteine] tritt eine hochdifferenzierte Tierwelt so plötzlich und vielfältig auf, dass von der „kambrischen Explosion“ (vgl. Valentine 2004) oder vom „Urknall der Paläontologie“ gesprochen wird (vgl. Abb. 24, Abb. 186).

Abb. 24: „Kambrische Explosion“: Der Großteil der Geschichte des Lebens (während des Präkambriums) ist fossil fast nur durch Einzeller dokumentiert. Vielzeller tauchen dann im Kambrium ziemlich abrupt auf.

Lebewesen aus allen bekannten Tierstämmen, die Hartteile besitzen, sind im Kambrium (meist bereits im Unterkambrium) vertreten. Dazu gehören z. B. Schwämme (Porifera), Hohltiere (Coelenterata), Ringelwürmer (Annelida), Armfüßer (Brachiopoda), Gliederfüßer (Arthropoda), Weichtiere (Mollusca), Stachelhäuter (Echinodermata) und auch Chordatiere (Chordata; darunter als erste Wirbeltiere auch kieferlose Fische). Diese Tierstämme sind zudem von Beginn ihres fossilen Nachweises in der Regel in verschiedene, deutlich abgrenzbare Untergruppen (Klassen) aufgespalten und geographisch meist weit verbreitet. In tieferen Schichten des obersten Präkambriums wurden dagegen nur sehr wenige Vielzeller gefunden, so z. B. einige Hohltiere oder Schwämme (s. o.).

Abb. 186: Kambrische Explosion. Kein Baum, sondern ein Strauch ohne Hauptäste und ohne Verzweigungen: das fossil dokumentierte Auftreten der wichtigsten Tierstämme. Die Strichlierung steht für das Fehlen von Fossilfunden.

Zum Verständnis der Klassifikation: Das Tierreich wird in Stämme unterteilt, die Unterschiede zwischen den Stämmen sind also maximal; man kann sagen, die Stämme stehen für die größten Bauplanunterschiede. Die Stämme werden weiter unterteilt in Klassen (vgl. Abb. 44), beispielsweise werden die Chordatiere in die Klassen der Knochenfische, Knorpelfische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere sowie Gruppen ohne Wirbelsäule (die nur die Chorda [= sog. „Rückensaite“, elastischer Achsenstab] als Stützstab besitzen) unterteilt. (In der Cladistik werden diese Unterteilungen teilweise anders vorgenommen, doch das tut an dieser Stelle nichts zur Sache. Cladistik ist ein Verfahren in der Systematik, bei dem Organismen aufgrund von sog. abgeleiteten Merkmalen in einem Verzweigungsdiagramm angeordnet werden.)

Abb. 44: Die verschiedenen hierarchischen Klassifikationsebenen am Beispiel der Hundeartigen.

Beispielsweise spricht Geyer (1998) vom „abrupten Auftreten von Metazoen- [Vielzeller-] Gruppen, deren hochgradige Verschiedenartigkeit in ihrem Ausmaß rätselhaft bleibt. Schon im Unterkambrium, oder zumindest bis zum späteren Kambrium, tauchen fast alle heutigen Stämme auf, daneben aber auch Metazoen, die sich nicht oder nur unter Zurechtbiegen der Diagnosen in die gängigen Tiergruppen einordnen lassen“. Denn zu den auch heute vertretenen Tierstämmen kommen zahlreiche Formen, deren taxonomische Stellung unklar oder umstritten ist und die den kambrischen Reichtum an Tiergestalten noch erheblich vergrößern. So beschreibt Gould (1991) unter den Fossilien des Burgess-Schiefers in Britisch-Kolumbien (Kanada) 20 neue Tierstämme mit großen Bauplan-Unterschieden, die er als „irre Wundertiere“ bezeichnet; die äußerst vielgestaltigen Arthropoden nennt er „einzigartige Gliederfüßer“ mit einem „Maximum an anatomisch leistungsfähigen Möglichkeiten“. Seiner Meinung nach übertreffen die Burgess-Fossilien „wahrscheinlich das gesamte Spektrum des wirbellosen Lebens in den heutigen Ozeanen“ (vgl. Abb. 187). Andere Paläontologen sind zurückhaltender. Sie meinen, dass das damalige Tierspektrum nicht so groß war wie Gould annimmt und kritisieren die Aufstellung so zahlreicher neuer Tierstämme. Doch wie immer man diese Funde auch taxonomisch einordnet, es ändert nichts an der erstaunlichen Verschiedenartigkeit kambrischer Tiergestalten.

Abb. 187: Anomalocaris, eines der „irren Wundertiere“ aus dem Kambrium. Quelle: nach Gould 1991.

Die hauptsächlichen Unterschiede zwischen den Bauplänen der Tierwelt waren damit von Beginn der dokumentierten Fossilüberlieferung vielzelliger Organismen bereits vorhanden. Schon Darwin hatte diese Vielfalt der kambrischen Fossilien als Problem für seine Theorie vermerkt. In einer aktuellen Monographie stellt Valentine (2004) fest, dass sich diese markante Diskontinuität seither durch viele Forschungen bestätigt hat. Unter den kambrischen und den wenigen präkambrischen Formen finden sich kaum Fossilien, die die verschiedenen Stämme miteinander verbinden, aber auch diese wenigen Ausnahmen eignen sich nicht als evolutionäre Übergangsformen. Der Grund dafür ist, dass einzelnen verbindenden Merkmalen solcher Formen Merkmalskomplexe gegenüberstehen, die eine Übergangsstellung ausschließen.

Valentine (2004, S. 31, 35) stellt fest, dass von keinem einzigen Stamm die Vorläufer bekannt sind, ebenso ist der Weg der Entstehung aller Klassen der Wirbellosen unbekannt (zu den taxonomischen Einheiten siehe Abb. 44, s. o.). Einige präkambrische Fossilien sind ihrerseits so sehr verschieden von den kambrischen, dass ihr Ursprung selbst im Dunkeln liegt. Nachfolgende Veränderungen (d. h. die Differenzierung innerhalb der Stämme oder der Klassen) sind zwar immer noch sehr erheblich, aber in ihrem Ausmaß geringer als während der postulierten, aber fossil fast überhaupt nicht belegten vorkambrischen Evolution. „Was danach noch an evolutiven Transformationen erfolgte, waren bei aller Formenvielfalt im Grunde nur Variationen der in der kambrischen Revolution etablierten Grundbaupläne“ (Seilacher 1992, 19).

1.2 Ursachen der kambrischen Explosion?

Worauf die kambrische Explosion zurückzuführen ist, konnte bisher nicht geklärt werden. Die häufig geäußerte Ansicht, die evolutionär zu fordernden Vorläufer seien aufgrund der Zartheit ihres Baus oder aufgrund schlechter Fossilisationsbedingungen nicht gefunden worden, kann nicht überzeugen, da über 400 Fundstellen im Präkambrium bekannt sind, die so zarte Geschöpfe wie Mikrofossilien (einzellige Organismen), Algen u.a. bergen. Aus demselben Grund ist die Ansicht kritisch zu bewerten, dass die Vorläufer sehr klein, vielleicht sogar mikroskopisch klein gewesen seien und daher unentdeckt blieben. Außerdem ist diese Annahme derzeit reine Spekulation. Valentine (2004, S. 463) weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass in kleinerem Maßstab auch nach dem Erwerb von Hartteilen regelmäßig ein explosives Auftreten von niederrangigeren Taxa zu beobachten sei.

Nach der Theorie vom „freien Raum“ konnten die vielen Baupläne sich deshalb so schnell entwickeln, weil viele unbesetzte ökologische Nischen vorhanden waren. Abgesehen davon, dass es sich auch hier um eine bloße Spekulation handelt, gab es nach verbreiteter Auffassung auch sonst in der Erdgeschichte Phasen mit vielen freien ökologischen Nischen; dennoch sind keine neuen Grundbaupläne entstanden.

Es werden auch ökologische Gründe diskutiert. Beispielsweise treten im Unterkambrium phosphathaltige sog. „small shelly“ (kleine Schalen)-Fossilien zeitgleich mit phosphatführenden Sedimenten auf und verschwinden mit deren Ausklingen. Die nachfolgenden Organismen besitzen dagegen Karbonate als vorrangiges Baumaterial. In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, dass nicht nur die Tiergestalten, sondern auch ganze Ökosysteme in komplexer Form plötzlich auftauchen und ebenso plötzlich wieder verschwinden.

Schließlich wurde im Zuge der Entdeckung der Regulationsgene (Hox-Gene) die Idee geäußert, dass durch geringfügige Änderungen bei Regulationsgenen große morphologische Änderungen eintreten könnten. Doch dies wäre nur möglich, wenn entsprechende Strukturelemente bereits latent vorhanden sind. Deren Herkunft wird durch Hox-Gene und deren Mutationen jedoch nicht erklärt (vgl. „Homeobox-Gene und Evolution“ (https://genesis-net.de/e/1-3-c/3-5/)).

1.3 Entstehung der Wirbeltiere

Eines der Rätsel der Entstehung der Tierstämme ist die Entstehung des Endoskeletts (inneres Skelett), die Frage also, wie sich Knochen gebildet haben könnten. Dazu liegen weder Fossilfunde noch fundierte theoretische Modelle vor. Die wenigen bekannten fossilen wirbellosen Chordatiere geben keine näheren Hinweise auf die Abstammung der Wirbeltiere (Wirbeltiere gehören zu den Chordatieren, vgl. Abb. 188).

Abb. 188: Ein Chordatier ohne Wirbel: das etwa 8 cm lange Lanzettfischchen Amphioxus. Die Chorda ist ein elastischer Stützstab oberhalb des Darms. Das glashelle Lanzettfischchen lebt im Sand der Meeresküsten (unten). Amphioxus wurde gelegentlich als Modell für einen Vorfahren der Wirbeltiere diskutiert. Eine direkte Ableitung vom Lanzettfischchen ist jedoch nicht möglich, da diese Form dafür zu spezialisiert ist. Quelle: nach Portmann.

Man muss sich vor Augen halten, welcher Umstellung es im Bauplan eines Tieres bedarf, damit sich ein System aus Knochen, Wirbeln, Sehnen und dazugehörigen Muskeln bildet! Diese grundlegenden Umbildungen müssten sich über so viele Zwischenstadien und über so lange Zeiten hingezogen haben, dass man in präkambrischen oder kambrischen Gesteinen unbedingt entsprechende Fossilien finden müsste. Als geeignetster Vorläufer wird Pikaia (Abb. 189) aus dem kanadischen Burgess-Schiefer (Mittelkambrium) genannt; seine Körperform erinnert an das Lanzettfischchen (Abb. 188), das Tier besitzt einen verstreiften Strang am Rücken, der als Chorda (Rückensaite) interpretiert wird, und typische Zickzackstreifen von Myotomen (Muskelbändern).

Abb. 189: Pikaia gracilens wird als möglicher Vorläufer der Wirbeltiere diskutiert. Nach Gould 1991.

Erst seit wenigen Jahren kennt man die ältesten fossil dokumentierten mutmaßlichen Wirbeltiere, die kieferlosen Fische Myllokunmingia und Haikouichthys (Abb. 190). Sie tauchen jedoch bereits im Unterkambrium auf, in der berühmten Fossillagerstätte Chengjang (China) und damit in älteren Schichten als Pikaia.

Abb. 190: Haikouichthys aus Chengjiang/China (Unterkambrium). Nach Valentine 2004.

Allgemein stellt Carroll (1993, S. 16) über die ältesten bekannten Wirbeltiere fest, dass sie sich voneinander so sehr unterscheiden, „daß ihre verwandtschaftlichen Beziehungen nur schwer zu rekonstruieren sind. Jede dieser Gruppen besitzt ein Mosaik ursprünglicher und abgeleiteter Merkmale, aber keine nähert sich dem anatomischen Merkmalsmuster, das man für primitive Vorfahren der anderen Gruppen erwarten würde.“ Evolutionstheoretisch wird daher vermutet, dass Knochen mehrfach unabhängig in vielen verschiedenen Entwicklungslinien erworben wurden (Konvergenz, vgl. „Ähnlichkeiten in der Morphologie und Anatomie“ (https://genesis-net.de/e/1-3-e/5-1/)). Verwandtschaftliche Beziehungen der Wirbeltiere zu anderen Tierstämmen werden aufgrund des Fossilmangels anhand heute lebender Formen rekonstruiert.

1.4 Zusammenfassung

Im Unterkambrium tauchen fossile Vertreter aller Hartteile-besitzenden Tierstämme auf, in der Regel fast gleichzeitig in großer Formen-Bandbreite und geographisch weit verbreitet. Im darunterliegenden Präkambrium wurden vergleichsweise wenige vielzellige Organismen gefunden, von denen nur einige eventuell als Vorläufer kambrischer Formen interpretieren lassen. Das plötzliche Erscheinen der unterschiedlichsten Baupläne gleich zu Beginn der Fossilüberlieferung gilt auch unter Evolutionsbiologen als rätselhaft.

1.5 Literatur

Carroll RL (1993) Paläontologie und Evolution der Wirbeltiere. Stuttgart, New York.

Fortey R (2002) Trilobiten! Fossilien erzählen die Geschichte des Lebens, München.

Geyer G (1998) Die kambrische Explosion. Paläont. Z. 72, 7-30.

Gould SJ (1991) Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur. München, Wien.

Valentine JW (2004) On the origin of phyla. Chicago.

Seilacher A (1992) Vendobionta als Alternative zu Vielzellern. Mitt. Hamb. zool. Mus. Inst. 89, Erg.bd. 1, 9-20.

Autor: Reinhard Junker, 27.04.2010

Aktualisiert am 07.01.2024 (B. Scholl); © beim Autor; alter Link: 2010, https://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/i42842.php

Hier geht’s zum Expertentext. Fachartikel: Zur neueren Diskussion über die kambrische Explosion (R. Junker 2014)
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