Die Entstehung des Lebens – ein kritischer Kommentar ausgerechnet in Nature
Boris Schmidtgall & Benjamin Scholl
Woher kommt das Leben? Seit Charles Darwin stellt man sich aus naturalistischer Perspektive vor, dass sich zunächst die molekularen Bausteine der Organismen wie Proteine, Nukleinsäuren und Lipide allein durch ungesteuerte chemische Reaktionen kleiner organischer Moleküle gebildet hätten. Diese sollen in weiteren Schritten die erste lebende Zelle gebildet haben, mit der die biologische Evolution im eigentlichen Sinne begonnen haben soll. Dieses hypothetische Szenario der Abiogenese (Lebensentstehung) wird weithin akzeptiert; Kritik daran ist eher selten oder weniger bekannt. Doch ausgerechnet in der renommierten Zeitschrift Nature stellen Lane & Xavier (2024) nun eine Art Review über den aktuellen Stand der Forschung über eine rein natürliche Lebensentstehung vor. Obwohl sie selbst Evolutionsbiologen sind und auf eine entsprechende Lösung der bestehenden Probleme hoffen, formulieren sie in ungewohnter Offenheit die offenen Fragen und Widersprüche zwischen der chemischen Realität und notwendigen Prozessen für einen solchen Vorgang angeht.
„Der Ursprung des Lebens ist eine der größten Herausforderungen der Wissenschaft“
Lane & Xavier (2024, 948) beginnen mit der Feststellung: „Der Ursprung des Lebens ist eine der größten Herausforderungen der Wissenschaft.“ Dies liegt unter anderem daran, dass es sich um ein äußerst komplexes interdisziplinäres Thema handelt. Schließlich muss der Weg von einfachen kleinen Molekülen hin zu sich reproduzierenden Zellen erklärt werden, die viele „molekulare Maschinen“ wie z. B. Ribosomen als „Proteinfabriken“, ein komplexes Erbgut, eine komplexe Zellmembran und einen Stoffwechsel besitzen (vgl. S. 948).
Die berechtigte Frage der Autoren lautet: Doch wie könnte natürliche Selektion (Auslese) so etwas vollbringen?
Lane & Xavier (2024, 948) kommentieren: „Es gibt keinen Konsens darüber, wonach man suchen soll oder wo. Es besteht nicht einmal Einigkeit darüber, ob alles Leben auf Kohlenstoff basieren muss – obwohl alles bekannte Leben auf der Erde darauf basiert.“ Bisher wurde allerdings noch kein konkretes Alternativmodell zu Kohlenstoff-basiertem Leben vorgelegt, da Kohlenstoff und andere chemische Elemente in Biomolekülen genau die richtigen Eigenschaften für lebende Zellen aufweisen und außerdem in großer Häufigkeit in genau unserem Bereich des Universums vorzufinden sind (vgl. Widenmeyer 2021, 81–83+95).
Lane & Xavier (2024, 948) zufolge ist zudem der Ort der ersten Lebensentstehung unklar: Handelt es sich um heiße hydrothermale Gewässer an Land oder um heiße Quellen in der Tiefsee? Die Panspermie-Hypothese, laut der Meteoriten organisches Material oder gar lebende Zellen auf die Erde gebracht haben sollen, wird schon lange Zeit von kaum noch jemandem vertreten. Das Meteoriten-Modell verlagert die Entstehung des Lebens nur in noch viel unwirtlichere Bereiche des Universums als die Erde, die in vielerlei Hinsicht wie für Leben gemacht ist (vgl. Pailer & Krabbe 2023, 221f). Außerdem würden lebende Zellen wohl kaum die harte UV-Strahlung auf der Oberfläche von Meteoriten überstehen.
Obwohl die Entstehung erster Zellen durch einen rein natürlichen Prozess häufig mit dem Anspruch verbreitet wird, eine naturwissenschaftliche Tatsache zu sein, sind die empirischen Daten, die eine Rekonstruktion der Lebensentstehung ermöglichen sollen, nach Lane & Xavier sehr unsicher. Sie schreiben nämlich: „Durch Beobachtungen allein lassen sich diese Möglichkeiten nicht einschränken. Die wenigen geologischen Spuren, die auf frühes Leben hindeuten, sind rätselhaft“ (S. 948). So sei es beispielsweise schon eine Herausforderung, abiotische geochemische Strukturen von fossilen Bakterien zu unterscheiden (S. 948f): „Ist eine schwache Kohlenstoffisotopensignatur auf der Oberfläche eines Minerals ein Fingerabdruck des Lebens (das den leichteren Kohlenstoff-12 anreichert) oder das Ergebnis einer anderen Art chemischer Aktivität?“
Ebenso erweisen sich genbasierte Stammbaumrekonstruktionen als „nicht direkt hilfreich“ (S. 949). Bestenfalls kann man einen hypothetischen Stammbaum des Lebens zurück bis zu einigen der frühsten Zellen erstellen, die bereits Gene enthalten haben. Doch letztlich hilft das nicht bei der Frage, wie genau diese Gene und Proteine der ersten Zelle ursprünglich entstanden sind. Von solchen Genen und Proteinen bräuchte man im Übrigen für die einfachsten bekannten Zellen nach aktuellem Wissensstand einige Hundert (vgl. Borger 2021; inklusiver komplexerer Reparaturmechanismen, s. Schmidtgall 2024a; b; 2025). Außerdem ist „die genaue genetische Zusammensetzung dieser Vorläuferpopulation umstritten“ (Lane & Xavier 2024, 949).
Dennoch haben Lane & Xavier (2024, 949) noch die Hoffnung, dass man den Ursprung des Lebens irgendwann verstehen könne. Die genannten Sachverhalte sorgen aber dafür, dass es „schwierig“ ist, „konkurrierende Hypothesen eindeutig zu beweisen oder zu widerlegen“ (S. 949). All das steht in einem krassen Missverhältnis zu „überzogenen Behauptungen“, von denen die Abiogeneseforschung „heimgesucht wird“ (S. 949). Die Autoren machen hierfür auch Ursachen im Wissenschaftsbetrieb hinsichtlich des Wettbewerbes um Aufmerksamkeit, Anerkennung und natürlich Finanzierung aus.
Dementsprechend gibt es in der Abiogeneseforschung eine „Zersplitterung“, die aus jahrzehntelangen Auseinandersetzungen über grundlegende Fragen resultiert – z. B. hinsichtlich der Quellen von Kohlenstoff sowie Energie und der Notwendigkeit von Licht (S. 949). Außerdem gab es Debatten über die Frage, wo Selektion genau ansetzt – bei einzelnen Genen, chemischen Netzwerken oder ganzen Zellen. Für Lane & Xavier liegt die Lösung darin, dass Forscher sich nicht nur einzelne, schön passende Daten „herauspicken“ dürfen, sondern den Gesamtkontext betrachten müssen (S. 949). Dabei sind je nach Entstehungsszenario (z. B. an hydrothermalen Quellen vs. Schwarzen Raucher in der Tiefsee) die Umstände und theoretisch denkbaren Entstehungsprozesse sehr unterschiedlich.
Ursuppen-Modell
Das bekannteste Szenario der Abiogenese sind wohl hypothetische Vorgänge in einer „Ursuppe“. Einer modernen Version zufolge soll der erste Schritt zur Bildung von organischen Molekülen die UV-Licht-Anregung von Cyanidderivaten gewesen sein – dies sind Salze der Blausäure (HCN). Mittels ganz unterschiedlicher Reaktionen sollen so die Nukleobasen als DNA-Bestandteile in „hoher Ausbeute“ produziert worden sein. Allerdings können aus HCN allein niemals Nukleotide entstehen. Experimentell gezeigt worden ist lediglich die Bildung von Adenin aus HCN, nicht jedoch aller vier Nukleobasen (Hudson et al. 2012). Um aus den Nukleobasen Nukleotide herzustellen, werden mindestens zwei weitere kleine Moleküle benötigt, und zwar unter hochspezifischen und alles andere als „natürlichen“ Bedingungen (Powner et al. 2009).
Dabei ist völlig unklar, woher das ganze Cyanid gekommen sein soll – vielleicht von Meteoriteneinschlägen? Unter Geologen herrscht darüber „wenig Einigkeit“ (S. 949). Doch das größere Problem ist: Wie könnte aus einer solchen präbiotischen Chemie schließlich Leben entstanden sein? Und wie konkret könnten solche chemischen Verbindungen „über lange Zeiträume (möglicherweise Millionen von Jahren) bestehen bleiben“, bevor sie dann „irgendwie“ zusammengefunden und sich selbst zu replizierenden Zellen zusammengefügt haben sollen (S. 949)?
Häufig nimmt man im Rahmen des Ursuppen-Modells an, dass Nukleotide sich in einem „kleinen Tümpel“ anreicherten (S. 949). Allerdings müssten Nukleotide anschließend polymerisieren, um längere Kettenmoleküle als Informationsträger für genetisches Material zu bilden.
Neben der DNA (Desoxyribonukleinsäure) ist die chemisch ähnliche RNA (Ribonukleinsäure) in der Lage, genetische Information zu übermitteln, die dann z. B. in Proteinsequenzen übersetzt werden. Doch auch in diesem Fall müssten viele Nukleotide polymerisieren, damit lange RNA-Moleküle gebildet werden können.
Ein typischer Erklärungsversuch für diesen Polymerisierungsvorgang beruht auf der Annahme, dass der Tümpel immer wieder austrocknete und sich dann wieder mit Wasser füllte, so dass die RNA-Polymere mit jedem Zyklus weiter wachsen konnten (Nass-Trocken-Zyklen). Später habe diese RNA dann sowohl als Katalysator (ähnlich wie Enzyme) als auch als genetischer Informationsspeicher gedient.
Allerdings wirft diese Vorstellung der sogenannten „RNA-Welt“ laut Lane & Xavier (2024, 949) „einige schwierige Fragen“ auf. So gibt es „kaum Beweise dafür, dass RNA viele der ihr zugeschriebenen Reaktionen katalysieren kann (z. B. die für den Stoffwechsel erforderlichen), und dass das Kopieren von ‚nackter‘ RNA (die nicht in Kompartimenten wie Zellen eingeschlossen ist) die RNA-Stränge begünstigt, die sich am schnellsten replizieren“ (S. 949). Im Gegenteil: Solche ungeschützten RNA-Moleküle werden mit der Zeit stetig kleiner und einfacher. „Schlimmer noch: Durch das regelmäßige Austrocknen bilden die Nass-Trocken-Zyklen immer wieder zufällige RNA-Gruppierungen […]. Die besten Kombinationen, die zufällig für mehrere nützliche Katalysatoren codieren, gehen durch erneute zufällige Bildung in der nächsten Generation sofort wieder verloren, wodurch die ‚vertikale Vererbung‘ verhindert wird, die für die Evolution zum Aufbau von Neuartigkeit erforderlich ist“ (S. 949).
Für eine lebende Zelle wäre es aber nötig, dass die RNA einen Stoffwechsel codieren (und katalytisch antreiben) könnte, der dafür sorgt, dass die erste Protozelle sich selbst erhalten, wachsen und vermehren kann. Dies erfordert ein „Netzwerk aus Hunderten von Reaktionen, das alle Zellen am Leben erhält“ (S. 949). Solche Stoffwechselreaktionen in heutigen Lebewesen haben aber „keine Ähnlichkeit“ mit der Cyanidchemie, aus denen die Nukleotide entstanden sein sollen. Es klafft also eine gewaltige Kluft zwischen hypothetischem Ausgangsszenario und einer hypothetischen RNA-Protozelle. Lane & Xavier schlussfolgern: Die chemische „Evolution müsste also jeden einzelnen Schritt des Stoffwechsels ersetzen, und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass eine solche umfassende Ersetzung möglich ist“ (S. 949).
Ohne es entsprechend zu benennen, bringen die beiden Autoren hier sogar das Intelligent-Design-Prinzip der „nichtreduzierbaren Komplexität“ ins Spiel, wenn sie schreiben, dass „die Codierung von nur der Hälfte der Schritte eines Stoffwechselweges (oder der Hälfte der für eine freilebende Zelle erforderlichen Wege), wenn überhaupt, nur einen geringen Nutzen“ hat (S. 949). So stellt sich die Frage, ob tatsächlich verschiedene Gene, die für mehrere Stoffwechselwege (kurz davor sprachen die Autoren von Hunderten im Netzwerk vorhandenen Prozessen) auf einmal von alleine entstanden sein können. Die Autoren konstatieren hierzu (S. 949): „Die Wahrscheinlichkeit dafür ist so groß, dass der Astrophysiker Fred Hoyle dies einmal mit einem Tornado verglich, der über einen Schrottplatz fegt und einen Jumbojet zusammenbaut. Die Behauptung, dass die Evolution einen Weg finden wird, reicht nicht aus: Eine wirkliche Erklärung muss angeben, wie.“
Somit bleiben die meisten folgenden notwendigen Schritte, die nach einer Bildung von Nukleotiden in einer „Ursuppe“ noch nötig wären, „problematisch“ (S. 949; vgl. zu Problemen der RNA-Welt-Hypothese auch Schmidtgall 2019b).
Lane und Xavier sind in ihren Ausführungen zwar bemerkenswert kritisch, vermeiden es jedoch, die wirklich – nach aktuellem Wissensstand – unüberwindbaren Probleme zu benennen. Es ist allgemein bekannt, dass alle molekularen Bausteine von Organismen über lange Zeiträume unvermeidbar zerfallen (Damer & Deamer 2020; vgl. Schmidtgall 2024a; b; 2025). Damer & Deamer 2020 schreiben: „Aufgrund des bereits erwähnten Wasserproblems würde jedes katalytische Polymer – sollte es sich einmal gebildet haben –, erst recht ein so komplexes wie eine primitive ATP-Synthase, ohne die ständige Reparatur und Neusynthese durch die Enzyme der Biologie, durch hydrolytische Zersetzung bald abgebaut werden.“
Diese Tatsache allein ergibt schwerwiegende bis unlösbare Probleme für alle Modelle, die von einer schrittweisen Anhäufung von Änderungen entsprechend notwendiger Zellbestandteile ausgehen, bevor eine sie schützende und reparierende Zelle überhaupt hätte entstehen können.
Daher ist auch die Annahme der spontanen Bildung von Nukleotiden nicht haltbar, da Nukleotide mehrere Bindungen enthalten, die durch chemische Reaktionen mit Wassermolekülen wieder gespalten werden. Sie würden also zerfallen, selbst wenn sie entstünden (Benner et al. 2012).
Hinzu kommt, dass die Bildung von RNA noch anspruchsvoller ist als diejenige der DNA, da RNA gegenüber der Hydrolyse (Spaltung chemischer Bindungen durch Reaktion mit Wasser) deutlich empfindlicher als DNA ist. Dieser experimentell vielfach belegte Sachverhalt spricht allgemein gegen Spekulationen bezüglich einer hypothetischen „RNA-Welt“ (Lindahl 1967; 1993).
Hydrothermale Systeme
Lane & Xavier bevorzugen das Lebensentstehungsmodell in hydrothermalen Tiefseesystemen. Dort sollen unter Beteiligung von Gasen wie Kohlendioxid und Wasserstoff verschiedene Reaktionen in Gang gebracht worden sein, die dem Stoffwechsel ähneln (Protometabolismus) und schließlich Gene und Proteine hervorbringen sollen.
Die Autoren stellen dennoch fest (S. 949): „Auch hier gibt es viele Probleme, die sich jedoch von denen der präbiotischen Suppe unterscheiden.“
Zuerst verweisen Lane & Xavier darauf, dass Wasserstoff und Kohlenstoffdioxid nicht sonderlich reaktiv sind. Diesem Problem wird mit folgendem Gedankengang begegnet: Die Porensysteme von Tiefsee-Schloten sollen förderlich gewesen sein, da diese außen einen sauren und innen einen alkalischen pH-Wert aufweisen – also eine „zellähnliche“ Topologie (S. 949). Dementsprechend könne der Fluss von Protonen (positiv geladene Wasserstoffkerne, H+) ins Innere der Poren Energie zur Verfügung gestellt haben, die „in ähnlicher Weise“ funktioniere wie der Protonenfluss bei der CO2-Fixierung in heutigen Zellen (wie im Calvinzyklus bei der Photosynthese). Den Autoren zufolge haben neuere Forschungsergebnisse gezeigt, dass solche Bedingungen die Synthese von langkettigen Fettsäuren und Carbonsäuren antreiben können. Diese sollen sich dann von selbst zu „zellähnlichen“ Strukturen zusammenfügen, die durch eine Lipiddoppelschicht-Membran von der Umwelt abgegrenzt sind.
Die Annahme, dass Porensysteme von Tiefseeschloten Vorläufer des Energiestoffwechsels von Zellen gewesen sein könnten, erscheint allerdings sehr unplausibel. In allen Formen von Zellen erfolgt die Energieumwandlung mithilfe von ATP-Synthasen – hochkomplexen Proteinensembles, die im Zuge wiederholter Rotationen die zelluläre Energiewährung ATP synthetisieren. ATP-Synthasen werden zwar durch einen pH-Gradienten angetrieben, doch erklärt das Vorhandensein eines pH-Gradienten noch lange nicht, wie die zur Energiegewinnung notwendigen molekularen Maschinen entstanden sein sollen. Auch die Entstehung von Lipiden in solchen Porensystemen hilft in keiner Weise weiter, da die Energie der Lipide ohne ATP-Synthese nicht nutzbar gemacht werden kann.
Allerdings bereitet es vielen Chemikern „Kopfzerbrechen“, dass bei einem solchen Protonenfluss durch Poren in hydrothermalen Schloten eine Vielzahl von netzwerkartigen Reaktionen bis hin zu einer Protozelle vorangetrieben werden könnte (S. 949). Schließlich fehlen Enzyme, die als Katalysatoren dienen könnten – immerhin muss Kohlenstoffdioxid erst zu Nukleotiden und dann zu Nukleinsäuren werden. „Der Chemiker Leslie Orgel hat dieses Szenario einmal als einen ‚Appell an die Magie‘ abgetan“ (S. 950).
Die Behauptung von Lane & Xavier unter Bezugnahme auf Arbeiten von Muchowska et al. (2020), dass einige Reaktionen des Krebszyklus spontan und ohne Beteiligung von Enzymen ablaufen würden, unterschlägt die Tatsache, dass es sich um hochgradig artifizielle Laborbedingungen handelte, die in keinerlei Weise natürlichen Bedingungen nahe kommen (Muchowska 2017; Schmidtgall 2019a). Aber selbst, wenn annähernd natürliche Bedingungen gegeben wären, geben Lane & Xavier zu: „[D]as ist aber noch lange kein Beweis für einen Fluss durch das gesamte Netzwerk“ des benötigten Zellstoffwechsels (S. 950).
Einen weiteren „Stolperstein“ machen die Autoren bei der Polymerisation aus. Zwar gelang die Polymerisation von Nukleotiden im Wasser auf mineralischen Oberflächen (unter Laborbedingungen), doch wirft ein solcher Prozess unter natürlichen Bedingungen ähnliche Probleme auf wie bei den Nass-Trocken-Zyklen unter sogenannten „Ursuppenbedingungen“.
Die Autoren hoffen daher auf weitere Forschungsergebnisse, die Klarheit über die Plausibilität eines solchen Szenarios bringen können. Sollte es zur Polymerisation von Nukleotiden in selbstständig wachsenden Protozellen gekommen sein, dann wären ja mineralische Oberflächen zur Herstellung eines Protonengradienten zur Energieerzeugung nicht mehr verfügbar. Dann hätte die Polymerisation unter zellähnlichen Bedingungen, d. h. in einem wässrigen Gel, aber eben ohne Enzyme gelingen müssen. Bisher bekannte experimentelle Versuche, RNA zu polymerisieren, sind sehr anspruchsvoll und ohne genaue Versuchskontrolle keineswegs umsetzbar (vgl. Schmidtgall 2020, 11).
Lane & Xavier schlussfolgern (S. 950): „Wenn ernsthafte Versuche, RNA unter diesen Bedingungen zu synthetisieren, scheitern, müsste der Gesamtrahmen geändert werden.“
Welches Modell ist besser?
Auch andere Modelle – wie die Ankunft von organischen Molekülen per Meteorit – haben ihre Nachteile. Die Autoren werfen hier Fragen auf, wie und wo genau sich diese organischen Stoffe zusammengefunden und polymerisiert haben könnten. Ein weiteres Problem stellt die Frage dar, wie mittels Meteoriten zuverlässig entsprechende Stoffe in ausreichender Menge an dafür passende Orte der frühen Erde hätten gelangen können.
Die Lebensentstehung in Koazervaten bzw. Mikrosphären, also kugelförmigen Molekülaggregaten, in denen sich nicht mischbare Flüssigkeiten in verschiedene Phasen aufgespalten haben sollen, ist ebenso problematisch, denn „dann stellt sich die Frage, woher all die Vorläuferstoffe für das Wachstum kamen. Und wie haben sich diese phasengetrennten Tröpfchen in Zellen mit einer anderen Topologie verwandelt, in denen diese unterschiedlichen chemischen Prozesse nun hauptsächlich unter wässrigen-gelartigen Bedingungen ablaufen?“ (S. 950). Ähnliche Fragen lassen sich auch stellen, wenn man wachsende und sich konzentrierende Kristalle (durch eutektisches Gefrieren) oder geschichtete Mineralien oder Poren in Vulkangestein als mögliche Startpunkte für organische Synthesen ins Spiel bringt (vgl. S. 950).
Doch selbst wenn es Belege dafür gibt, dass es Einzelelemente solcher Szenarien gibt, bedeutet das noch nicht, dass sie auch „relevant“ sind. So schreiben die Autoren, dass die Tatsache der Entstehung einiger Aminosäuren im Urey-Miller-Ursuppenexperiment mittels elektrischer Entladung und anorganischen Substanzen noch nicht bedeutet, dass auf diese Weise Leben entstanden ist; es zeige erst einmal nur, welche Einzelschritte theoretisch denkbar wären (vgl. S. 950). Es kommt hinzu, dass die vielen Variationen von Miller-Experimenten in keiner Weise gezeigt haben, wie die ersten Schritte zum Leben ausgesehen haben könnten. In keinem einzigen Ansatz wurden alle 20 kanonischen Aminosäuren produziert (Schmidtgall 2020, 8). Die Aminosäuren Tryptophan oder Arginin sind nie erhalten worden. Vor allem aber bildeten sich Nebenprodukte, die Weiterreaktionen in Richtung von Proteinen als Bausteinen des Lebens wirksam verhindern (ebd.). Daher stellt Kricheldorf fest (2019): „Fasst man die […] Kritikpunkte zusammen, bleibt nur die Schlussfolgerung, dass die Versuche von Miller vor allem gezeigt haben, wie eine chemische Evolution von Proteinen nicht stattgefunden haben kann […].“ Außerdem bleibt auch hier immer die Frage (S. 950): Und „was passiert [dann] als nächstes?“
Letztlich wollen sich Lane & Xavier zwischen Ursuppen- und Hydrothermal-Modell aber nicht entscheiden, da dies „verfrüht“ sei und beide ihre Vor- und Nachteile hätten (S. 950). So wird kurzerhand aus der Not eine Tugend gemacht: Es gebe eben keine „falschen“ Szenarien, sondern bisher noch Raum für verschiedene Modelle nebeneinander. Allerdings seien diese „wenig hilfreich“, wenn sie nicht in den größeren Zusammenhang gestellt werden. Schließlich muss das Endergebnis der Entstehung von Lebewesen ja eine funktionierende Zelle mit Genen und Proteinen sein (vgl. S. 950f).
Der genetische Code
Lane & Xavier verweisen darauf, dass es direkte physikalische Wechselwirkungen zwischen den je drei Nukleotiden der Codons und den von ihnen codierten Aminosäuren gebe, insbesondere bei den einfacher zu bildenden Aminosäuren (vgl. S. 950). Die ersten Gene hätten dann gar keine codierende Funktion gehabt, sondern sollen lediglich den spontanen beginnenden Metabolismus verbessert haben. Kritisch ist hier anzumerken, dass entsprechende Wechselwirkungen zwischen Nukleotiden und Aminosäuren nicht ganz so ausgeprägt sind, dass man damit bereits den genetischen Code erklären könnte. So schreiben Harrison et al. (2023, 340) in dem Artikel, auf den sich Lane & Xavier bezogen haben, Folgendes bezüglich der entsprechenden Simulationen und Magnetresonanz-Studien: „Diese [nichtzufälligen biophysischen] Assoziationen ermöglichen es uns, die Hälfte der Anticodon-Zuordnungen in der zweiten Base korrekt vorherzusagen, wobei es bemerkenswert ist, dass beide Methoden hydrophile Wechselwirkungen besser vorhersagen als hydrophobe Assoziationen. […] diese biophysikalischen Beziehungen sind schwach und [lediglich] statistisch, aber dennoch real und im gesamten Code verbreitet.“ So oder so, dieser Sachverhalt erklärt weder die Entstehung des genetischen Codes noch dessen Optimalität.
Ist eine Lösung in Sicht?
Lane & Xavier attestieren der Abiogeneseforschung die „gleichen Probleme“ wie der Wissenschaft insgesamt: „zu viel Verkauf [„overselling“] von Ideen, um diese zu veröffentlichen und zu finanzieren, zu wenig Gemeinsamkeiten zwischen konkurrierenden Gruppen und vielleicht zu viel Stolz: eine zu starke Bindung an bevorzugte Szenarien und eine zu geringe Bereitschaft, sich das Gegenteil beweisen zu lassen“.
Um diese (Un-)Kultur in der Wissenschaft zu ändern, schlagen die Autoren verschiedene Maßnahmen vor. Eine davon ist besonders aus Schöpfungsperspektive zu begrüßen: Sie wollen, dass man wieder mehr „offene“ bzw. „freie“ Wissenschaft akzeptiert – und es auch akzeptiert, wenn liebgewonnene Hypothesen widerlegt werden und ganz neue Denkansätze erforderlich machen (S. 951). Dabei müssen auch wieder mehr negative Forschungsergebnisse veröffentlicht werden (S. 951; vgl. Scholl 2021, 77). Außerdem sollte Wissen in Form von Datenbanken am besten frei zugänglich gemacht werden und Redakteure sollten die Artikel möglichst unvoreingenommen bewerten sowie den Peer-Review-Prozess möglichst transparent gestalten.
Ein weiteres Problem ist, dass so viel Knowhow aus so vielen verschiedenen Bereichen in der Abiogeneseforschung benötigt wird, aber nur „so wenig direkte Beweise“ bzw. „no smoking gun“ auffindbar sind (S. 951). Es ist also kein Konsens in Sicht – das Forschungsfeld sei außerdem „zu groß“ und man sei noch lange nicht „einer Antwort nahe“ gekommen (S. 951).
Dies sind erstaunlich offene Worte von Forschern, die an einen ungeplanten, ungelenkten Ursprung des Lebens glauben und dem Glauben an eine naturalistische Erklärung der Lebensentstehung noch nicht aufgegeben haben (vgl. Coppedge 2024). Die Frage nach der Herkunft der ersten lebenden Zelle ist ein sehr starkes Argument für einen intelligenten Schöpfer als Ursache der Lebensentstehung.
Zuletzt sei noch erwähnt, dass die Bioingenieurin Joana C. Xavier auf YouTube angab, das Buch „Signature in the Cell“ des Intelligent-Design-Vertreters Stephen Meyer gelesen zu haben: Es ist „eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe, weil es die Fragen wirklich auf den Punkt bringt“. Auch wenn ihr die Intelligent-Design-Schlussfolgerung nicht gefällt („… wir müssen eine naturalistische Antwort auf diese Prozesse haben, das muss sein, sonst bin ich raus aus dem Job“[1]), will sie doch mit Intelligent-Design-Argumenten in den Diskurs treten (vgl. Nelson 2022; Coppedge 2024). Die Argumente von Intelligent-Design-Vertretern sind also auf die Fachwelt doch nicht ganz so ohne Einfluss, wie man vielleicht denken könnte.
Literatur
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Borger P (2020) Die Optimalität des genetischen Codes – ein klarer Beleg für Intelligentes Design. Genesisnet-News vom 25.11.2020, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n282.php.
Borger P (2021) Ganz oder gar nicht: Die sich teilende Zelle benötigt mindestens 492 Gene. Genesisnet-News vom 29.07.2021, http://www.genesisnet.info/schoepfung_evolution/n293.php.
Coppedge D (2024) From Nature, a Devastating Critique of Origin-of-Life Research. Evolution News vom 28.2.2024, https://evolutionnews.org/2024/02/from-nature-a-devastating-critique-of-origin-of-life-research/.
Damer B & Deamer D (2020) The hot spring hypothesis for an origin of life. Astrobiology 20:4, doi: 10.1089/ast.2019.2045.
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Hudson JS et al. (2012) A unified Mechanism for Abiotic Adenine and Purine Synthesis in Formamide. Angew. Chem. 124, 5224-5227.
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Anmerkungen
[1] The Biggest Mystery in the History of the Universe | Joana Xavier on the Origin of Life, https://www.youtube.com/watch?v=0Xb33ZflqpI, ab Minute 26:33.
Eine gekürzte Version dieses Artikels ist bereits im Studium Integrale Journal 32-1 erschienen: https://www.si-journal.de/index2.php?artikel=jg32/heft1/sij321.html.