Das Erbgut von Mensch und Schimpanse
Fast identisch, oder …?
Peter Borger

Eines der populärsten Argumente für die Abstammung des Menschen von affenartigen Vorfahren sind die Ähnlichkeiten im Erbgut von Mensch und Schimpanse. Dazu wird in der populärwissenschaftlichen Literatur häufig noch immer ein Unterschied von nur 1–2 % Prozent zitiert. Jüngere genetische Analysen zeigen jedoch einen viel größeren Unterschied: bis zu 16 %! Und es gibt viele Hunderte einzigartige neue Gene im Erbgut beider Arten.
1. Wie werden Verwandtschaftsverhältnisse anhand des Erbguts bestimmt?
Die Technik zur Analyse von DNA ist hoch entwickelt und weitgehend automatisiert. Damit wurde der Zugang zum Erbgut (Genom) verschiedenster Organismen eröffnet und man kann Vergleiche anstellen. Diese Entwicklung hat auch einer Fokussierung auf das Erbmolekül DNA Vorschub geleistet. Zum Erbgut von Mensch und Schimpanse gibt es jedoch nach wie vor sehr unterschiedliche Aussagen, insbesondere darüber, ob die beiden Genome nahezu identisch sind oder nicht. Diese Situation rührt daher, dass oft verschiedene Aspekte der Genome miteinander verglichen werden. Man muss daher zuerst festlegen, was sinnvoll miteinander verglichen werden kann. In den letzten beiden Jahrzehnten wurden viele vergleichende Genomstudien durchgeführt, die sich mit verschiedenen Aspekten des Genoms von Mensch und Schimpanse beschäftigten. Dies hat zu unterschiedlichen Prozentangaben bezüglich der Unterschiede geführt, von 1,2 % Unterschied1 zwischen Mensch und Schimpanse bis hin zu 6,4 % reichen.2 Wie kommt es zu diese Unterschieden? Die nachfolgende kurze Literaturübersicht zu den verschiedenen Prozentangaben soll Klarheit geben. Die Daten zeigen, dass die 1 %-Differenz unhaltbar ist, während die neuesten Studien zeigen, dass die zwei Genome sogar zu etwa 16 % unterschiedlich sind.
2. Woher stammt die Angabe 1–2 %?
Vor etwa 50 Jahren entwickelten zwei Genetiker, Dave E. Kohne und Roy J. Britten, eine Methode, um DNA-Unterschiede zwischen Arten zu messen. Dabei wird die Schmelztemperatur bestimmt, bei welcher der DNA-Doppelstrang aufgrund der zugeführten Energie in zwei Einzelstränge aufgetrennt wird. Je besser zwei DNA-Sequenzen (Abfolgen der Einzelbausteine) sich paarweise zusammenlagern können, umso mehr Energie muss aufgewendet werden (höhere Temperatur), um sie wieder zu trennen. Seit den 1970er-Jahren wird diese Methode verwendet, um das Ausmaß der Homologie (Ähnlichkeit) zwischen den DNA-Sequenzen, die von zwei verschiedenen Organismen stammen, festzustellen. Mit dieser Methode wurde der Unterschied zwischen den DNA-Sequenzen von Mensch und Schimpanse mit 1,76 % bestimmt.3 Diese Zahl wurde von anderen Forschungsgruppen bestätigt und so etablierte sich die vermutete sehr nahe evolutionäre Verwandtschaft zwischen Mensch und Schimpanse.
3. Die Wende
Im Jahre 2002 verglich Roy J. Britten erneut eine große Menge von DNA-Sequenzen des Menschen mit den Sequenzen des Schimpansen. Er nutzte dafür die damals modernsten Techniken der DNA-Sequenzierung. Der Unterschied war eindeutig viel größer als 1-2 %. Britten schrieb Folgendes in der führenden amerikanischen Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences:
„Die Folgerung, dass wir 98,5 % unserer DNA-Sequenzen mit dem Schimpansen gemein haben, ist wahrscheinlich nicht richtig. […] Eine bessere Einschätzung dürfte sein, dass 95 % der Nukleotiden [Einzelbausteine der DNA] der DNA des Menschen und Schimpansen ähnlich sind. Der Unterschied durch Punkt-Mutationen ist 1,4 % und es gibt noch einen zusätzlichen Unterschied von 3,4 % wegen des Vorkommens von Indels.“3 („Indels“ sind eingefügte oder fehlende Abschnitte, vgl. Abbildung.)

4. Der Unterschied im Jahr 2005: 7,5 %
Nachdem die Genome von Mensch und Schimpanse sequenziert, miteinander verglichen und im Jahr 2005 in der Wissenschaftszeitschrift Nature veröffentlicht worden
waren, wurden die Ergebnisse von Britten bestätigt. Zudem meldete Nature einen zusätzlichen Unterschied von weiteren 2,7 % bei den verdoppelten Sequenzen (Duplikationen). Im Jahr 2005 betrug der bekannte tatsächliche Unterschied also 1,4 % + 3,4 % + 2,7 % = 7,5 %.1 Kurz darauf wurde in Science über einen Unterschied bei Duplikationen von ca. 1400 Genen berichtet.3 Wenn man bedenkt, dass es im menschlichen Genom etwa 21.000 proteincodierende Gene gibt, folgt daraus ein Unterschied von 6,4 %.
5. Human accelerated regions (HAR)
HAR sind Bereiche im menschlichen Genom, die im Vergleich zu den entsprechenden Bereichen bei anderen Organismen – einschließlich des Schimpansen – viele Änderungen aufweisen. Im menschlichen Genom gibt es mehr als 2700 solcher HAR.4 Oft haben sie einzigartige Merkmale. So hat das HAR1F-Gen beispielsweise eine kleine Schleife, die in einem besonderen Typ von Gehirnzellen, den Cajal-Retzius-Zellen, mitbestimmt, wie die sechs Schichten der menschlichen Gehirnrinde während der embryonalen Entwicklung gefaltet werden.
6. Die biologische Revolution
Die neuesten Analysen ermittelten 634 einzigartige neue proteincodierende Gene beim Menschen und 780 beim Schimpansen.5 Diese Gene werden vorwiegend im Gehirn genutzt und gelten als spezifische genetische Informationen unbekannter Herkunft. Eine Überraschung kam aber mit der Entdeckung, dass das Genom nicht nur für ca. 21.000 Proteine codiert, sondern auch für etwa ebenso viele RNA-Moleküle, die Regulationsaufgaben erfüllen. Unter diesen wurden etwa 20 verschiedene RNA-Genfamilien identifiziert, darunter z. B. die Mikro-RNA-Gene. Und hier zeigen sich bedeutende Unterschiede zwischen Mensch und Schimpanse.6, 7 Unter Tausenden von potentiellen Kandidaten wurden bereits 120 Mikro-RNA-Gene als spezifisch für den Menschen bestätigt. Und es werden noch viele weitere erwartet.
7. Große Chromosomen-Unterschiede
Der Mensch hat 46 Chromosomen, Schimpansen 48. Evolutionsbefürworter glauben, dass das menschliche Chromosom 2 durch Verschmelzung (Fusion) von zwei Chromosomen der Menschenaffen entstanden ist.8 Neuere Forschungen sprechen allerdings gegen diese Vorstellung, da die mutmaßliche Fusionsstelle im menschlichen Chromosom ein multifunktionales Gen enthält.9 Auch die Reihenfolge der Gene auf den Chromosomen ist oft ganz unterschiedlich.9 Ferner spricht das menschliche Y-Chromosom gegen eine gemeinsame Abstammung. Der Unterschied der Erbinformation des Y-Chromosoms bei Schimpanse und Mensch ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen Huhn und Menschen.9
8. 16 % statt 1 %
Bereits im Jahr 2005 berichtete Nature, dass von 2,8 Milliarden DNA-Bausteinen (Nukleotide) der menschlichen DNA nur 2,4 Milliarden mit denen des Schimpansen zusammenpassen.1 Das bedeutet, dass etwa 15 % der DNA von Mensch und Schimpanse nicht übereinstimmen. Dies wurde 2018 von dem Genomforscher Jeffrey P. Tomkins bestätigt, als er über 540 Millionen Nukleotide der DNA von Schimpansen, die sehr zuverlässig bestimmt worden sind, mit der entsprechenden menschlichen DNA verglich. Er beobachtete eine Differenz von 16 %.10
Dennoch werden noch immer selbst in wissenschaftlichen Zeitschriften Artikel veröffentlicht, die einen 1–2 %Unterschied im Erbgut von Mensch und Schimpanse erwähnen. Diese Artikel berücksichtigen die neueren Daten nicht und beziehen sich nur auf die Punktmutationen bei proteincodierenden Genen. Auch wenn in den Medien noch immer propagiert wird, dass es einen nur 1–2 %-igen genetischen Unterschied zwischen Menschen und Schimpansen gibt, ist das also ein veralteter und überholter Wissensstand, mit dem man zu Unrecht suggeriert, dass der Mensch nur ein höherentwickelter Affe sei.
9. Einzigartige Geschöpfe
Die moderne biologische Forschung liefert uns fortlaufend neue Erkenntnisse über artspezifische Erbinformation. Mehrere hundert Protein- und RNA-codierende Gene tragen dazu bei, dass die Genome von Mensch und Schimpanse viel verschiedener sind als früher angenommen. Mensch und Schimpanse sind jedoch einzigartige Geschöpfe!
Der tatsächliche Unterschied in Prozenten:
- 1,4 % Punkt-Mutationen1,3
- 3,5 % Indel-Mutationen1,3
- 2,7 % Duplikationen1
Der genetische Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse ist 16 %, wenn die ganze DNA Buchstabe um Buchstabe verglichen wird1,10
Unterschiede im Einzelnen:
- ca. 1400 duplizierte Gene3
- ca. 2700 Human Accelerated Regions4
- 634 einzigartige proteincodierende Gene in Menschen5
- 780 einzigartige proteincodierende Gene in Schimpansen5
- 120 einzigartige Mikro-RNA-Gene6,7
10. Quellen
- The Chimpanzee Sequencing and Analysis Consortium (2005) Nature 437, 50–51.
- Cohen J (2007) Science 316, 1836.
- Britten RJ (2002) Proc. Natl. Acad. Sci. USA 99, 13633–13635.
- Pollard K (2015) Bioessays 37, 1054–1061.
- Ruiz-Orera J et al. (2015) PLoS Genet. 11: e1005721.
- Berezikov E et al. (2006) Nature Genetics 38, 1375–1377.
- http://mirnablog.com/how-many-unique-mature-human-mirnas-are-there/
- Yunis J & Prakash O (1982) Science 215, 1525–1530.
- Terborg P (2017) Studium Integrale Journal 24, 12–21.
- Tomkins JG (2018) Answers Research J. 11, 205–209.
Dieser Artikel geht auf folgenden Flyer von Peter Borger zurück: https://www.wort-und-wissen.org/produkt/erbgut-mensch-schimpanse/.