Lesen und Schreiben zur Zeit Jesu
Existierte zur Zeit Jesu in Palästina so etwas wie eine allgemeine Schriftkultur? Diese Frage ist theologisch nicht ohne Brisanz. Denn wenn die Kunst des Schreibens tatsächlich verbreitet war, kommt man kaum um die Annahme herum, daß sich auch unter den Zuhören Jesu Schreibkundige fanden, die das Gehörte in Notizen festhielten, auf die beispielsweise Lukas zurückgreifen konnte. Überhaupt erschiene die in der Theologie vorherrschende Vorstellung der Spätdatierung der Evangelien nach dem Jahre 70 n.Chr. angesichts des ungeheuren Eindrucks, den Jesus auf seine Zuhörer gemacht haben muß, wenig plausibel. Kaum vorstellbar, daß niemand schriftliche Aufzeichnungen gemacht haben sollte, es sei denn, daß die übergroße Mehrheit nicht schreiben konnte. Dies ist freilich bislang die vorherrschende Meinung unter den Bibelgelehrten. Danach lag die Kunst des Schreibens in den Händen von Spezialisten, und auch lesen konnten nur wenige Gebildete. Hinsichtlich der neutestamentlichen Informationen über das Leben und die Reden Jesu bedeutet dies, daß sie über etliche Jahrzehnte lediglich mündlich weitergegeben werden konnten, ein Prozeß, in dem sie zunehmend verfälscht und mit nicht-authentischen Zusätzen überfrachtet worden seien. Folgt man dieser Argumentationskette, dann enthalten die heutigen Evangelien eher die Sicht, die die Christen zwei oder drei Generationen nach Jesus hatten, als Tatsachenberichte darüber, was er wirklich gesagt und getan hatte. Letzteres herauszufinden, ist die selbstgestellte Aufgabe der heutigen Theologen, die dafür ein spezielles Instrumentarium an text- und bibelkritischem Werkzeug entwickelt haben.
Durch Textaussagen selbst ist dieses Gedankengebäude nicht strikt zu widerlegen, kann doch jeder biblische Hinweis darauf, daß etliche Akteure des Neuen Testaments schreiben konnten, problemlos als spätere „Gemeindebildung“ weginterpretiert werden (wobei sich eine solche Argumentation allerdings im Kreise dreht). Es bekäme jedoch ernsthafte Risse, wenn sich herausstellte, daß die Annahme des weitgehenden Analphabetentums zur Zeit Jesu falsch war. Gerade dies ist aber die These Alan Millards, Professor für Hebräisch und alte semitische Sprachen an der Universität Liverpool, wenn er schreibt: „Die Hinweise, daß Lesen und Schreiben zur Zeit Jesu weithin praktiziert wurden, vermehren sich mit der Entdeckung jeder neu aufgefundenen Inschrift. Vieles von diesem Material stammt aus religiösen oder aus Regierungskreisen. Das trifft aber längst nicht auf alles zu.“
Neben dem berühmtesten Beispiel, den Qumran-Rollen, verweist Millard u.a. auf Briefe und Rechtsdokumente, die während des zweiten jüdischen Aufstandes unter Simon Bar-Kochba 132 bis 135 n.Chr. in Höhlen am Toten Meer zurückgelassen wurden. Etliche der Schriften datieren in die Mitte des ersten Jahrhunderts. Darunter befinden sich Scheidungsurkunden und ein Schuldbrief, der an Jesu Gleichnis vom ungerechten Haushalter in Lukas 16 erinnert. Millard verweist darauf, daß Schriftdokumente aus Papyrus und Leder mit Ausnahme der extrem trockenen Wüstengegend am Toten Meer aufgrund des Klimas in Palästina nicht erhalten bleiben konnten. Zudem waren diese Materialien für den Alltagsgebrauch viel zu teuer. Dafür nutzte man Tonscherben, die überall in großer Menge verfügbar waren. Viele solcher Ostraka sind erhalten. So fand man auf Massada, der Bergfestung, die 73 n.Chr. von den Römern gestürmt wurde, Scherben, die jeweils nur einen Namen, in etlichen Fällen auch nur einen Buchstaben enthielten. Man vermutet, daß es sich um eine Art Coupons zur Organisierung der Lebensmittelrationierung während der Belagerung handelte.
Auffällig ist, daß hebräisch und griechisch beschriebene Ostraka Seite an Seite gefunden wurden, was nahe legt, daß unter den Belagerten beide Sprachen gesprochen wurden. Daß die bisherigen Ostraka-Funde aus der Zeit der Evangelien hauptsächlich in Juda gemacht wurden, erklärt Millard nicht damit, daß die Kunst des Schreibens in Galiläa, von wo Jesus und seine Jünger stammten, weniger verbreitet gewesen wäre. Vielmehr verweist er darauf, daß hier der Siedlungsabbruch nach dem jüdischen Krieg weniger ausgeprägt war, und daß bislang kaum systematische Grabungen der betreffenden Horizonte durchgeführt wurden.
Ein klares Indiz für die Verbreitung des Schreibens sieht Millard auch in der Art und Weise, wie steinerne Ossarien beschriftet waren, in denen die Einwohner in Familiengräbern die Knochen der Hinterbliebenen aufbewahrten. In der Regel sind die Namen der Verstorbenen in die Behälter eingeritzt oder mit Holzkohle aufgemalt. In etlichen Fällen ist unschwer erkennbar, daß der jeweilige Schreiber wenig geübt war, was darauf schließen läßt, daß es vermutlich ein Angehöriger, jedenfalls kein professioneller Schreiber war. Der Autor faßt seine These zusammen: „… die archäologischen Entdeckungen und andere Beweisketten belegen, daß Lesen und Schreiben in den Tagen Jesu in Palästina weit verbreitet war. Ist das wahr, dann gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, daß auch Augenzeugenberichte davon existierten, was Jesus gesagt und getan hatte.“
UZ
[Millard A (2003) Literacy in the Time of Jesus. Biblical Archaeological Review 29, No.4, 37-45.]
Ursprünglicher Artikel: https://si-journal.wort-und-wissen.org/sij/article/view/3763/7193