Mythos oder Geschichte? Erkenntnisse aus der Zeit der Patriarchen

Mythos oder Geschichte? Erkenntnisse aus der Zeit der Patriarchen

Sind die Berichte über die Patriarchen: Abraham, lsaak, Jakob, … historisch bedeutungslose Literaturschöpfung aus der Zeit des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert v. Chr. oder später, nichts anderes als glorifizierende Phantasiegebilde, wie sie bereits vor mehr als 100 Jahren der einflußreiche Alttestamentler Julius WELLHAUSEN sah? Oder handelt es sich um historische Dokumente?
Dieser Frage geht ein kürzlich in „Biblical Archaeology Review“ erschienener Aufsatz des Liverpooler Ägyptologen Kenneth A. Kitchen. Der Autor vergleicht dabei eher beiläufige Informationen aus den alttestamentlichen Texten mit vergleichbaren Informationen aus außerbiblischen Quellen.
So ist beispielsweise aus einer Reihe antiker Quellen bekannt, daß der Preis für einen Sklaven zwischen 2250 und 500 v. Chr. von 10 bis 15 auf 90 bis 120 Silberschekel gestiegen ist. Die wenigen alttestamentlichen Erwähnungen von Sklavenpreisen zwischen 1700 und 750 v. Chr. geben diese Entwicklung quantitativ und chronologisch exakt wieder. Woher, so fragt KITCHEN, wußten die nachexilischen Autoren zu einer Zeit, als für einen Sklaven um 100 Schekel verlangt wurden, daß Joseph für nur 20 Schekel an die Ismaeliter verkauft wurde (Gen. 37), einem Preis, der, wie wir heute aus dem Gesetz des Hammurabi und Quellen aus Mari wissen, gerade im 19. und 18. Jahrhundert v. Chr. üblich war?
Eine ähnliche Beobachtung macht KITCHEN bezüglich des Aufbaus von Vertragstexten, der seit der mesopotamischen Frühzeit immer wieder Veränderungen unterworfen war. Die Patriarchenberichte überliefern eine Reihe von Verträgen.
Um nur zwei zu nennen: den Vertrag Abrahams mit Abimelech von Gerar (Gen 21) und den Vertrag Jakobs mit Lab an (Gen 31).
Die Struktur dieser Verträge weist große Ähnlichkeit auf mit Verträgen, die aus der entsprechenden Zeit zu Beginn des zweiten Jahrtausends aus Mari und Tel Leilan bekannt sind. Sie beginnen mit der Nennung der Zeugen, schließen eines Eids und den eigentlichen Vertragstext und enden mit einer Verwünschung für den Fall, daß einer der Partner den Vertrag bricht.
Mehrere Jahrhunderte später weisen die Verträge der Hethiter eine sehr viel kompliziertere Struktur auf. Sie enthalten zusätzlich eine formale Überschrift, einen Prolog, ein Deposit und einen Segen. Auch die Reihenfolge der einzelnen Punkte ist verändert. KITCHEN zeigt auf, daß die zeitgenössischen alttestamentlichen Verträge, etwa im Buch Josua diesem Muster genau folgen. Im Abraham-Bericht wird wiederholt von Bündnissen unter Kleinkönigen berichtet (z.B. Gen 14). KITCHEN weist darauf hin, daß in der gesamten nahöstlichen Geschichte nur eine kurze Zeitspanne durch eine derartige Situation beschrieben ist, die Zeit der Patriarchen.
Im späten dritten Jahrtausend wird Mesopotamien durch die 3. Dynastie von Ur dominiert, um 2000 v. Chr. gefolgt durch Elam. Dann, in der fraglichen Zeit, wird das politische Bild für etwa 250 Jahre durch unablässig wechselnde Allianzen von kleinen Stadtstaaten charakterisiert. Einige wie Isin, Larsa, Mari, später Assyrien und Babylon sind bedeutender als die anderen, keiner ist jedoch stark genug, die anderen zu beherrschen. Diese Ära der rivalisierenden Stadtstaaten wird dann durch die Erfolge eines Hammurabi von Babylon und eines Schamsi-Adad I. von Assyrien beendet. Sie wird nie wiederkehren.
In weiteren Abschnitten setzt sich KITCHEN mit den Namen der Patriarchenzeit und mit sozialen Gegebenheiten wie dem Familiensegen und dem Erbrecht auseinander, wobei ihm ebenfalls der Beleg dafür gelingt, daß die alttestamentlichen Texte und die Zeit, über die sie berichten, in erstaunlich guter Weise zusammen-passen.
KITCHEN beendet seinen Aufsatz mit einem Rat: Anstatt (die biblischen Berichte) weiter zu demontieren, sollte versucht werden, ein klares Bild von dem historischen Rahmen zu gewinnen und diesen Rahmen dann mit der großen Fülle an Daten-material, die uns die Archäologie bereitstellt, zu füllen.
[KITCHEN KA ( 1995) The Patriarchal Age. Myth or History? Biblical Archaeology Review 21, 48-95] UZ
Ursprünglicher Artikel: https://si-journal.wort-und-wissen.org/sij/article/view/4111