Auszug und Landnahme – Mythos oder Realität?

Auszug und Landnahme – Mythos oder Realität?

Was als Notlösung (wegen Terminkollision) entstand, wurde zu einem Höhepunkt in unserer Fachtagungsarbeit. Die 9. Fachtagung der Arbeitsgruppe Biblische Archäologie von Wort und Wissen fand dieses Jahr am 10.-11. 5. 2002 im Rahmen der und parallel zur Hauptkonferenz in Rehe statt und stieß auf besonders großes Interesse. Unsere zwei Hauptreferenten Dr. Bryant Wood, Direktor der Associates for Biblical Res-earch in Landesville/Pennsylvania, und Dr. John Bimson, Dozent am britischen Trinity College/Bristol, hielten Vorträge zum Hauptthema „Auszug und Landnahme – Mythos oder Realität?“ Da beide bibelgläubigen Wissenschafter unterschiedliche Modelle vertreten, die nie zuvor in der Öffentlichkeit vor einem größeren Publikum debattiert wurden, besuchten um die 100 deutsche, englische und niederländische Teilnehmer die diesjährige Tagung.

Viele Wissenschaftler behaupten, daß es weder im 15. Jahrhundert (biblisches Datum) noch im 13. Jh. v. Chr. (in der Wissenschaft meistfavorisiertes Datum) genügend Anhaltspunkte für die Historizität der biblischen Überlieferung einer militärischen Eroberung Kanaans gebe. Diese Meinung wird nicht von den beiden zur Tagung eingeladenen Wissenschaftlern Wood und Bimson geteilt. Beide sehen in der Archäologie eindeutige Hinweise für die Landnahme um 1400 v. Chr.

Bryant Wood, Hauptreferent der Archäologie-Fachtagung, an der Befestigungsmauer in Jericho

Nach Bryant Woods Auffassung hat die britische Archäologin Kathleen Ken-yon, die zwischen 1952-1958 in Jericho grub, die letzte befestigte Stadt (‚IV‘) auf dem alten Tell es-Sultan falsch datiert. Als sie bemerkte, daß bestimmte Typen von Keramiken aus der ägäischen Welt, die für die frühe Spätbronzezeit I (1550-1400 v. Chr.) so kennzeichnend sind, fehlten, datierte sie das Ende der Stadt zwischen 1580-1550 v. Chr. und folgerte, daß Josua die Stadt um 1400 v. Chr. nicht hätte einnehmen können. Dabei hatte sie aber im ärmeren Stadtviertel gegraben und andere Keramiken wie einfache Haushaltstöpfe und Vorratskrüge, die reichlich vorhanden waren, zu wenig beachtet. Diese Stücke, so Wood, hätten aber zeigen können, daß die Stadt noch bis 1400 v. Chr. (am Ende der Spätbronzezeit I) bewohnt war. Nicht nur Skarabäen aus der früheren 18. Dynastie aus naheliegenden Gräbern, sondern auch wenige Scherben der Zweifarbenkeramik waren bei früheren Grabungen bereits ans Licht gekommen und bestätigen laut Wood, daß Jericho tatsächlich zur Zeit Josuas um 1400 v. Chr. zerstört wurde. Die archäologischen Überreste zeigen weiter, daß diese Stadt während der Erntezeit von einem schweren Erdbeben und von einer gewaltigen Feuerbrunst getroffen wurde. All dies passe hervorragend zur biblischen Geschichte.

Dies sah auch der zweite Hauptreferent John Bimson so. Bimson, der ebenfalls die biblische Datierung der Landnahme um 1400 v. Chr. anerkennt und die Zerstörung derselben Stadt Jericho (Stadt ‚IV‘) den Israeliten unter Josua zuschreibt, glaubt jedoch nicht, daß die Stadt bis ans Ende der Spätbronzezeit I (konventionell um 1400 v. Chr.) existiert habe, sondern – darin schließt er sich der Meinung der meisten Archäologen an – bereits am Ende der Mittlerenbronzezeit (konventionell zw. 1580-1550 v. Chr.) gefallen war. Auch wenn diese Datierung nicht mit der biblischen Datierung (um 1400 v. Chr.) übereinstimme, spräche vieles dafür, daß die militärische Eroberung Kanaans zu dieser Zeit stattgefunden habe:

a) Die Städte der Mittlerenbronzezeit entsprächen nämlich am ehesten der Beschreibung der „mächtigen“ kanaanäischen Festungen in der Bibel (z.B. 3. Mose 13,28; 5. Mose 1,28) und nicht die der Städte der darauffolgenden Spätbronzezeit I-Periode, die zum großen Teil nicht oder nur sehr geringfügig befestigt waren.

b) Mehrere Forscher haben sich die Frage nach der Identität der Eroberer/Zerstörer dieser mächtigen Städte der Mittleren Bronzezeit gestellt. Ein Experte schreibt die Welle der Zerstörung dem Zustrom der aus Ägypten vertriebenen Asiaten (die sog. Hyksos) zu, die daraufhin in Kanaan zu politischen Spannungen und Rivalität zwischen den einheimischen Stammesverbänden und Städten führte. Bimsons Meinung nach war es nicht die Vertreibung der wenigen Hyksos-Asiaten, sondern eher der gewaltige Zustrom von israelitischen Stämmen, die eine solche Wirkung in Kanaan hätte auslösen können.

c) Auch ließe sich Woods Datierung für Stadt IV in Jericho am Ende der Spätbronzezeit I um 1400 nicht ohne weiteres auf andere Städte aus der Landnahme-Tradition übertragen. So wären bestimmte Städte wie Gibeon, Horma und Arad zu dieser Zeit gar nicht besiedelt gewesen.

Woods Hinweis auf spätbronzezeitliche Keramiken und Skarabäen aus der 18. Dynastie in Jericho stammten möglicherweise nicht aus der von Josua zerstörten Stadt, sondern, wie dies auch aus Grabungsberichten abzuleiten wäre, aus einer Siedlung, die nach der Zerstörung Jerichos entstanden sei und, wie es scheint, von dem in Richter 3 erwähnten Moabiterkönig Eglon gegründet wurde.

Keilschrifttafel aus Hazor von König Jabin, möglicher Zeitgenosse Josuas (Jos 11).

Wood und Bimson waren sich also beide einig, daß es ausreichende Hinweise auf eine Landnahme entsprechend der biblischen Schilderung gibt. Die Frage jedoch, aus welcher Epoche die Funde stammen, blieb dabei weiterhin offen. Bimson schlägt für die Datierung der Funde am Ende der Mittleren Bronzezeit eine chronologische Verschiebung von bis zu 200 Jahren vor, was aber für die gesamte Chronologie der ägyptischen Pharaonen (worauf sich die archäologische Datierung stützt) drastische Folgen hat.

Am Samstagnachmittag gab es abschließend mit weiteren geladenen Wissenschaftlern aus Europa und Amerika eine mehrstündige Diskussion über die Datierung der Landnahme und über die Chronologie der archäologischen Epochen und somit auch die der Pharaonen. Auch wenn die Tagung keine endgültigen Antworten auf noch immer offene Fragen bot, waren sich viele der Beteiligten einig: es gibt mehr überzeugende archäologische Anhaltspunkte für die biblische Eroberung Kanaans als manche Wissenschaftler wahrhaben wollen.

Und somit sind wir als Organisatoren der Fachgruppe für biblische Archäologie erneut in der Überzeugung gestärkt worden, daß die Spurensuche nach Überresten aus biblischer Zeit einen wichtigen Beitrag liefern kann. Wir hoffen und beten, daß Gott für unsere Arbeit auch in Zukunft neue Türen öffnen wird.

Peter van der Veen