Theodizee-Frage: Macht Leid Sinn?

Theodizee-Frage: Macht Leid Sinn?

Rezension: DVD „Macht Leid Sinn?“ – ein erstklassiger Gesprächseinstieg

Dokumentarfilm (DVD): 55 Min. Preis: 12,00 €, VIMEO: Download: 7,99 €; Leihgebühr: 3,99 €, Sprachen: Deutsch und Englisch

„Macht Leid Sinn?“ – so heißt ein neuer Dokumentarfilm des Instituts für Glaube und Wissenschaft (IGUW), der mittlerweile auf DVD und im Portal VIMEO zum Streaming und Download erhältlich ist. Zahlreiche Wissenschaftler und Experten sowie Betroffene von schwerwiegenden Leiderfahrungen kommen darin zu Wort. Sie beantworten verschiedene Fragen zum Thema Leid, die sich vielen Menschen irgendwann einmal stellen. Der Zuschauer wird in die Perspektive eines Internet-Users ersetzt, der seine Fragen zum Thema Leid per Suchmaschine eintippt und dann Videointerviews mit Experten anklickt.
Wirklich außergewöhnlich, ja geradezu einzigartig, ist die Breite an internationalen und deutschen Experten, die zu diesem Thema interviewt werden. Dazu gehören: ein islamischer Philosoph, ein jüdischer Rabbi, ein atheistischer Philosoph, ein christlicher Theologe (Prof. Dr. Matthias Clausen) und viele mehr. Auch chronische Schmerzpatienten, eine Genozid-Überlebende und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen wie z. B. Prof. Dr. Peter Imming (Pharmazie), der Althistoriker Dr. Jürgen Spieß und der berühmte Mathematikprofessor Prof. Dr. John Lennox kommen zu Wort. Sie alle beantworten die Frage, welche Rolle Leid in ihrer Weltanschauung spielt und welche Antworten diese für Sinnsuchende bereithält. „Wir müssen beide Probleme [Leiden durch menschliches Verhalten und durch Naturkatastrophen] anpacken und uns die Frage stellen, wie diese Dinge Sinn ergeben können. Und sie zu verstehen, hängt von der Weltanschauung ab. Wir schauen uns das Universum an und sehen die Schönheit der Andromeda-Galaxie, die Schönheit einer Blume oder eine Bergszenerie; andererseits … sehen wir Tsunamis, … Tornados … und Krebs. Jede Weltanschauung, die diesen Namen verdient, muss sich diesem ambivalenten Bild stellen“ (Prof. Dr. John Lennox).
Hier nur ein paar Impressionen, was solche Antworten sein können:
In den fernöstlichen Religionen führt der Umgang mit Leid in die Meditation, um nicht nur dem Leiden, sondern der mit ihm untrennbar verbundenen Realität unseres Lebens komplett zu entfliehen (Leben = Leiden). Das für wichtige fernöstliche Religionen zentrale Prinzip Karma bedeutet hierbei, „dass du in gewisser Weise verdienst, was dir zustößt“ (Dr. Sharon Dirckx, Neurowissenschaftlerin). Insbesondere für Reinkarnationsvorstellungen zeigt sich damit die Einsamkeit leidender Menschen, wenn sie Hilfe von anderen Menschen wünschen: „… wenn jemand das Leiden von Armut und Krankheit und Betteln [durch Reinkarnationen] erleben muss, und du dieser Person hilfst, und ihre Situation änderst, muss sie dieses Leben noch einmal leben“ (Elis Potter, ehemaliger Buddhistischer Mönch, Theologe).
Wie beim Judentum und Christentum steht auch im Islam der Mensch einem Schöpfergott gegenüber, der durch die Leiden in eine leidlose, glückliche Ewigkeit begleiten kann. Dem Islam zufolge ist Leiden dabei vor allem eine vorherbestimmte Prüfung Gottes, die zum Menschsein einfach dazu gehört.
Und wie ist es im Atheismus bzw. Säkularismus? „Judentum, Christentum und natürlich auch andere [Religionen] haben diese Vorstellung von einer ewigen Realität jenseits der gegenwärtigen Welt. Aber für säkulare Menschen ergibt sich ein Problem, weil sie keine absolute Realität haben, auf die sie blicken können. Sie haben das, was vor ihnen liegt. Und sie glauben, dass das alles ist, was es gibt … Und worauf beziehen sie sich, wenn es Leid gibt? Das ist eine sehr schwierige Frage“ (Esmé Partridge, Interfaith Consultant).
Der Religionskritiker und atheistische Philosoph Dr. Dr. Joachim Kahl wird besonders deutlich, wenn er indirekt aufzeigt, dass der Atheismus im tiefsten Grunde keine Antwort bzw. Hoffnung auf die Leidfrage anbieten kann: „Das Trösten mit religiösen Gesichtspunkten [ist] aus meiner Sicht ein Vertrösten …, weil es substanzlos ist. Und man muss sozusagen auch einräumen, dass es trostlose, rettungslose Situationen gibt, wo ein Trost nicht möglich ist – ehrlicherweise. Da hilft auch nur produktive Resignation in dem Sinne, dass man […] praktisch hilft. Aber man muss praktisch sagen, da sind die Grenzen menschlicher Solidarität erreicht. Deshalb auch immer mein Hinweis auf die Entwicklung der Tierwelt: Dass die von Anfang von List und Tücke und Gewalt lebt …“ Da er aus dem Atheismus und dem damit eng verbundenen Darwinismus (Kampf ums Überleben) heraus selbst keine tragfähigen Antworten zum Umgang mit Leid geben kann, verweist Joachim Kahl dann darauf, dass auch der Glaube an einen Schöpfergott große Probleme mit sich bringen würde. Kahl verwendet hierzu das altbekannte Theodizee-Problem (die Frage nach der Gerechtigkeit/Rechtfertigung Gottes): „Wenn Gott zugleich allmächtig und allgütig sein soll, woher kommen dann die Leiden? Entweder er ist nicht allmächtig und kann sie nicht verhindern oder abschaffen. Oder er ist nicht allgütig und will sie nicht abschaffen. Beides ist sozusagen einer Gottheit unwürdig …“
Der islamische Philosoph Dr. Shabbir Akhtar wiederum meint zur Theodizee Frage: „Ich glaube, es gibt Grenzen für das, was man sagen kann – außer sich einfach darauf zu berufen, dass es ein Geheimnis ist … Meiner Meinung nach kann dieses Problem angesprochen werden; ich denke nicht, dass es durch einen der Theismen [monotheistische Religionen] gelöst werden kann, obwohl ich auch glaube, dass das Christentum im Vergleich mehr Ressourcen zur Beantwortung dieses Problems hat als der Islam und das Judentum.“ Und der christliche Althistoriker Dr. Jürgen Spieß weist darauf hin, dass man die Theodizee-Frage auch umdrehen kann: „Wenn es einen Gott gibt, warum gibt es so viel Leid in der Welt? Und schon im 5. Jahrhundert hat jemand die Gegenfrage gestellt: Wenn es keinen Gott gibt, warum gibt es so viel Schönheit in der Welt?“ Soweit ein paar Impressionen und Zitate.
Anschließend wird im Film die christliche Sicht entfaltet, dass Gott ja ein Gott ist, der sich in Jesus Christus selbst dem Leiden dieser Welt am Kreuz gestellt hat. Er ist ein Gott, der gerade im Leiden bei uns ist und uns helfen kann, trotz Leiden eine Hoffnung zu behalten. Auch an vielen weiteren Beispielen wird die Frage, wie man Leiden mit oder ohne christlichem Glauben begegnet, diskutiert. In Anbetracht des komplexen Themas, das eine der schwierigsten Fragen der Menschheit überhaupt behandelt, werden dabei ein paar Denkmöglichkeiten und Hinweise auch zum Umgang mit Leidenden aus unterschiedlichen Perspektiven angesprochen. Einen gewichtigen Kritikpunkt gibt es allerdings: Der Film behandelt das Thema Leid aus biblischer Perspektive nicht vollumfänglich. Der Zuschauer erfährt zum Beispiel nicht wirklich den eigentlichen Grund für Jesu Leiden, wie ihn der Apostel Petrus entfaltet – nämlich, dass Jesus dort die Schuld jedes einzelnen Menschen stellvertretend trug: „Denn auch Christus hat einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führte“ (1. Petrusbrief 3,18; Schlachter Übersetzung); und wie es Jesus Christus selbst beim Abendmahl vorhergesagt hat: „Denn dies ist mein Blut, das des [neuen] Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Matthäus 26,28; Elberfelder Übersetzung CSV). Die Schwere der Sünde, die verantwortliche Rolle des Menschen im Sündenfall für den Rest der Schöpfung sowie biologische und medizinische Implikationen, und auch die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes (welche neben Gottes Allmacht und Güte entscheidende Charaktereigenschaften bezüglich der Theodizee-Frage sind) uvm. kommen an diesem Punkt zu kurz. Hier gäbe es aus theologischer Sicht noch so viel zu sagen – so viel mehr, als in einer Dokumentation mit 55 Minuten Laufzeit unterkommen könnte. Hier würde man aber wohl von einem so interdisziplinären und interreligiösen Werk – und genau da liegt ja die Stärke und Einzigartigkeit dieses Films – zu viel erwarten. Der Film ist daher ein Gesprächs- und Diskussionseinstieg, aber keine vollumfängliche Abhandlung des Themas.
Was die DVD definitiv leisten kann, und wozu sie auch wärmstens empfohlen werden kann – unabhängig davon, ob in Hauskreisen oder evangelistischen Bibelkreisen, – ist, dass sie einen äußerst spannenden und tiefgründigen Gesprächsstoff bietet. Dabei ist sie interessant, alltagsrelevant, emotional berührend und technisch auf hohem Niveau umgesetzt. Die angerissenen Themen und Fragestellungen sollten dann aber gemeinsam mit der Bibel in der Hand vertieft und besprochen werden. Auch ersetzt der Film keine biblische Seelsorge für Leidende.
Von der Thematik her wäre die DVD an sich auch gut für das Gespräch mit jungen Menschen geeignet, allerdings ist themengemäß die explizite bildliche Darstellung von Gewalt, Krieg und Leiden nicht für jede Altersklasse geeignet – hier empfiehlt es sich, den Film zuvor Probe zu schauen.

Benjamin Scholl

Links:

Ursprünglicher Link: https://www.wort-und-wissen.org/info/wort-und-wissen-info-4-2024/